Ist Liebe eine Kunst

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Ist Lieben eine Kunst?


Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem,
der diese Kunst beherrschen will, verlangt, daß er etwas weiß
und daß er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine
angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfahrt, etwas,
was einem sozusagen »in den Schoß fällt«, wenn man Glück
hat? Dieses kleine Buch geht davon aus, daß Lieben eine Kunst
ist, (1.Johannes 4:8) obwohl die meisten Menschen heute zweifellos das letztere annehmen.
Nicht als ob man meinte, die Liebe sei nicht wichtig. Die
Menschen hungern geradezu danach; sie sehen sich unzählige
Filme an, die von glücklichen oder unglücklichen
Liebesgeschichten handeln, sie hören sich Hunderte von
kitschigen Liebesliedern an - aber kaum einer nimmt an, daß
man etwas tun muß, wenn man es lernen will zu lieben.
Diese merkwürdige Einstellung beruht auf verschiedenen
Voraussetzungen, die einzeln oder auch gemeinsam dazu
beitragen, daß sie sich am Leben halten kann. Die meisten
Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das
Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu
können. Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht,
geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Um zu diesem
Ziel zu gelangen, schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine,
besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so
mächtig und reich zu sein, wie es die eigene ge sellschaftliche
Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen
bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und
dergleichen möglichst attraktiv zu sein. Andere Mittel, die
sowohl von Männern als auch von Frauen angewandt werden,
sind angenehme Manieren, interessante Unterhaltung,
Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Gutmütigkeit. Viele dieser
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Mittel, sich liebenswert zu machen, sind die gleichen wie die,
deren man sich bedient, um Erfolg zu haben, um »Freunde zu
gewinnen«. Tatsächlich verstehen ja die meisten Menschen
unseres Kulturkreises unter Liebenswürdigkeit eine Mischung
aus Beliebtheit und Sex-Appeal.
Hinter der Einstellung, daß man nichts lernen müsse, um
lieben zu können, steckt zweitens die Annahme, es gehe bei dem
Problem der Liebe um ein Objekt und nicht um eine Fähigkeit.
Viele Menschen meine, zu lieben sei ganz einfach, schwierig sei
es dagegen, den richtigen Partner zu finden, den man selbst
lieben könne und von dem man geliebt werde. Diese Einstellung
hat mehrere Ursachen, die mit der Entwicklung unserer
modernen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Ursache ist die
starke Veränderung, die im zwanzigsten Jahrhundert bezüglich
der Wahl des »Liebesobjektes« eingetreten ist. Im
Viktorianischen Zeitalter war die Liebe - wie in vielen
traditionellen Kulturen - kein spontanes persönliches Erlebnis,
das hinterher vielleicht zu einer Heirat führte. Ganz im
Gegenteil: Ein Heiratsvertrag wurde entweder zwischen den
beiden Familien oder von einem Heiratsvermittler oder auch
ohne eine derartige Vermittlung abgeschlossen; der Abschluß
erfolgte aufgrund gesellschaftlicher Erwägungen unter der
Annahme, daß sich die Liebe nach der Heirat schon einstellen
werde. In den letzten Generationen ist nun aber die Vorstellung
von der romantischen Liebe in der westlichen Welt fast
Allgemeingut geworden. Wenn in den Vereinigten Staaten auch
Erwägungen herkömmlicher Art nicht völlig fehlen, so befinden
sich doch die meisten auf der Suche nach der »romantischen
Liebe«, nach einer persönlichen Liebeserfahrung, die dann zur
Ehe führen sollte. Diese neue Auffassung von der Freiheit in der
Liebe mußte notwendigerweise die Bedeutung des Objektes der
Liebe - im Gegensatz zu ihrer Funktion - noch verstärken.
In engem Zusammenhang hiermit steht ein weiterer
charakteristischer Zug unserer heutigen Kultur. Unsere gesamte
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Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für
beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster
anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen
bares Geld oder auf Raten kaufen zu können - in diesem
Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder
sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der
Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau
ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter
»attraktiv« ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die
gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was
einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der
jeweiligen Mode ab - und zwar sowohl in körperlicher wie auch
in geistiger Hinsicht. In den zwanziger Jahren galt ein junges
Mädchen, das robust und sexy war und das zu trinken und zu
rauchen wußte, als attraktiv; heute verlangt die Mode mehr
Zurückhaltung und Häuslichkeit. Ende des neunzehnten und
Anfang unseres Jahrhunderts mußte der Mann ehrgeizig und
aggressiv sein - heute muß er sozial und tolerant eingestellt sein,
um als attraktiv zu gelten. Jedenfalls entwickelt sich das Gefühl
der Verliebtheit gewöhnlich nur in bezug auf solche
menschlichen Werte, für die man selbst entsprechende
Tauschobjekte zur Verfügung hat. Man will ein Geschäft
machen; der erwünschte Gegenstand sollte vom Standpunkt
seines gesellschaftlichen Wertes aus begehrenswert sein und
gleichzeitig auch mich aufgrund meiner offenen und
verborgenen Pluspunkte und Möglichkeiten begehrenswert
finden. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie
das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für
sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt
erschwinglich ist. Genau wie beim Erwerb eines Grundstücks
spielen auch bei diesem Geschäft oft noch entwicklungsfähige,
verborgene Möglichkeiten eine beträchtliche Rolle. In einer
Kultur, in der die Marketing-Orientierung vorherrscht, in
welcher der materielle Erfolg der höchste Wert ist, darf man sich
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kaum darüber wundern, daß sich auch die menschlichen
Liebesbeziehungen nach den gleichen Tauschmethoden
vollziehen, wie sie auf dem Waren- und Arbeitsmarkt herrschen.
Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben
müßte nicht gelernt werden, beruht darauf, daß man das
Anfangserlebnis, »sich zu verlieben«, mit dem permanenten
Zustand »zu lieben« verwechselt. Wenn zwei Menschen, die
einander fremd waren - wie wir uns das ja alle sind -, plötzlich
die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen,
wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist
dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten,
erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und
wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert
und ohne Liebe gelebt haben. Dieses Wunder der plötzlichen
innigen Vertrautheit wird oft dadurch erleichtert, daß es mit
sexueller Anziehung und sexueller Vereinigung Hand in Hand
geht oder durch sie ausgelöst wird. Freilich ist diese Art Liebe
ihrem Wesen nach nicht von Dauer. Die beiden Menschen
lernen einander immer besser kennen, und dabei verliert ihre
Vertrautheit immer mehr den geheimnisvollen Charakter, bis ihr
Streit, ihre Enttäuschungen, ihre gegenseitige Langeweile die
anfängliche Begeisterung getötet haben. Anfangs freilich wissen
sie das alles nicht und meinen, heftig verliebt und »verrückt«
nacheinander zu sein sei der Beweis für die Intensität ihrer
Liebe, während es vielleicht nur beweist, wie einsam sie vorher
waren.
Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht
noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden
Gegenbeweise. Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein
Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und
Erwartungen begonnen wird und das mit einer solchen
Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe. Wäre das auf
irgendeinem anderen Gebiet der Fall, so würde man alles
daransetzen, die Gründe für den Fehlschlag herauszufinden und
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in Erfahrung zu bringen, wie man es besser machen könnte -
oder man würde es aufgeben. Da letzteres im Falle der Liebe
unmöglich ist, scheint es doch nur einen richtigen Weg zu
geben, um ein Scheitern zu vermeiden: die Ursachen für dieses
Scheitern herauszufinden und außerdem zu untersuchen, was
»lieben« eigentlich bedeutet.
Der erste Schritt auf diesem Wege ist, sich klarzumachen, daß
Lieben eine Kunst ist, genauso wie Leben eine Kunst ist; wenn
wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie
wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst, zum
Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst
der Medizin oder der Technik lernen wollten.
Welches sind die notwendigen Schritte, um eine Kunst zu
erlernen?
Man kann den Lernprozeß in zwei Teile aufteilen: Man muß
einerseits die Theorie und andererseits die Praxis beherrschen.
Will ich die Kunst der Medizin erlernen, so muß ich zunächst
die Fakten über den menschlichen Körper und über die
verschiedenen Krankheiten wissen. Wenn ich mir diese
theoretischen Kenntnisse erworben habe, bin ich aber in der
Kunst der Medizin noch keineswegs kompetent. Ich werde erst
nach einer langen Praxis zu einem Meister in dieser Kunst, erst
dann, wenn schließlich die Ergebnisse meines theoretischen
Wissens und die Ergebnisse meiner praktischen Tätigkeit
miteinander verschmelzen und ich zur Intuition ge lange, die das
Wesen der Meisterschaft in jeder Kunst ausmacht. Aber
abgesehen von Theorie und Praxis, muß noch ein dritter Faktor
gegeben sein, wenn wir Meister in einer Kunst werden wollen:
Die Meisterschaft in dieser Kunst muß uns mehr als alles andere
am Herzen liegen; nichts auf der Welt darf uns wichtiger sein als
diese Kunst. Das gilt für die Musik wie für die Medizin und die
Tischlerei - und auch für die Liebe. Und hier haben wir
vielleicht auch die Antwort auf unsere Frage, weshalb die
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Menschen unseres Kulturkreises diese Kunst nur so selten zu
lernen versuchen, obwohl sie doch ganz offensichtlich daran
scheitern: Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir
doch fast alles andere für wichtiger als diese: Erfolg, Prestige,
Geld und Macht. Unsere gesamte Energie verwenden wir
darauf, zu lernen, wie wir diese Ziele erreichen, und wir
bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des
Liebens zu erlernen.
Halten wir vielleicht nur das für der Mühe wert, womit wir
Geld verdienen oder was unser Prestige erhöht, und ist die
Liebe, die »nur« unserer Seele nützt und die im modernen Sinne
keinen Gewinn abwirft, ein Luxus, für den wir nicht viel
Energie aufbringen dürfen? Wie dem auch sei, wir wollen uns
im folgenden mit der Kunst des Liebens beschäftigen und
wollen dabei folgendermaßen vorgehen: Zunächst soll die
Theorie der Liebe erörtert werden (was den größten Teil dieses
Buches ausmachen wird), und an zweiter Stelle wollen wir uns
mit der Praxis der Liebe beschäftigen - wenn sich auch hier (wie
auf allen anderen Gebieten) nur wenig über die Praxis sagen
läßt.