Die Theorie der Liebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Die Theorie der Liebe

Liebe als Antwort auf das Problem der
menschlichen Existenz

Liebe als Antwort auf das Problem der
menschlichen Existenz
Jede Theorie der Liebe muß mit einer Theorie des Menschen,
der menschlichen Existenz beginnen. Wenn wir die Liebe - oder,
besser gesagt, etwas der Liebe Ähnliches auch bei Tieren finden,
so sind doch deren Liebesbeziehungen hauptsächlich ein
Bestandteil ihres Instinktapparats, während beim Menschen nur
noch Überreste seiner Instinktausstattung zu beobachten sind.
Das Wesentliche an der Existenz des Menschen ist ja, daß er
sich über das Tierreich und seine instinktive Anpassung erhoben
hat, daß er die Natur transzendiert hat, wenn er sie auch nie ganz
verläßt. Er ist ein Teil von ihr und kann doch nicht in sie
zurückkehren, nachdem er sich einmal von ihr losgerissen hat.
Nachdem er einmal aus dem Paradies - dem Zustand des
ursprünglichen Einsseins mit der Natur - vertrieben ist,
verwehren ihm die Cherubim mit flammendem Schwert den
Weg, wenn er je versuchen sollte, dorthin zurückzukehren. Der
Mensch kann nur vorwärtsschreiten, indem er seine Vernunft
entwickelt, indem er eine neue, eine menschliche Harmonie
findet anstelle der vormenschlichen Harmonie, die unwiederbringlich
verloren ist.
Mit der Geburt (der menschlichen Rasse wie auch des
einzelnen Menschen) wird der Mensch aus einer Situation, die
so unbedingt festgelegt war wie die Instinkte, in eine Situation
hineingeschleudert, die nicht festgelegt, sondern ungewiß und
offen ist. Nur in bezug auf die Vergangenheit herrscht
Gewißheit, und für die Zukunft ist nur der Tod gewiß.
Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das
sich seiner selbst bewußt ist. Er besitzt ein Bewußtsein seiner
selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit und der
Möglichkeiten seiner Zukunft. Dieses Bewußtsein seiner selbst
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als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden dessen, daß
er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, daß er ohne seinen
Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird,
daß er vor denen, die er liebt, sterben wird (oder sie vor ihm),
daß er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der
Gesellschaft hilflos ausgeliefert ist - all das macht seine
abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen
Gefängnis. Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich
nicht aus diesem Gefängnis befreien könnte - wenn er nicht in
irgendeiner Form seine Hände nach anderen Menschen
ausstrecken und sich mit der Welt außerhalb seiner selbst
vereinigen könnte.
Die Erfahrung dieses Abgetrenntseins erregt Angst, ja sie ist
tatsächlich die Quelle aller Angst. Abgetrennt sein heißt
abgeschnitten sein und ohne jede Möglichkeit, die eigenen
Kräfte zu nutzen. Daher heißt abgetrennt sein hilflos sein,
unfähig sein, die Welt - Dinge wie Menschen - mit eigenen
Kräften zu erfassen; es heißt, daß die Welt über mich herfallen
kann, ohne daß ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Daher
ist das Abgetrenntsein eine Quelle intensiver Angst. Darüber
hinaus erregt es Scham und Schuldgefühle. Diese Erfahrung von
Schuld und Scham im Abgetrenntsein kommt in der biblischen
Geschichte von Adam und Eva zum Ausdruck. Nachdem Adam
und Eva vom »Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen«
gegessen haben, nachdem sie ungehorsam waren (Gut und Böse
gibt es nur, wenn die Freiheit zum Ungehorsam besteht),
nachdem sie dadurch menschlich wurden, daß sie sich von der
ursprünglichen animalischen Harmonie mit der Natur
emanzipierten, also nach ihrer Geburt als menschliche Wesen,
erkannten sie, »daß sie nackt waren« (Gen 3,7) und schämten
sich. Ist tatsächlich anzunehmen, daß ein so alter und
elementarer Mythos wie dieser von der prüden Moral des
neunzehnten Jahrhunderts erfüllt ist und daß wir darauf
hingewiesen werden sollen, daß sie sich genierten, weil ihre
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Genitalien sichtbar waren? Das ist doch kaum denkbar, und
wenn wir die Geschichte im viktorianischen Sinn verstehen,
entgeht uns das, worauf es doch offenbar ankommt: Nachdem
Mann und Frau sich ihrer selbst und ihres Partners bewußt
geworden sind, sind sie sich auch ihrer Getrenntheit und
Unterschiedlichkeit bewußt, insofern sie verschiedenen
Geschlechts sind. Sie erkennen zwar ihre Getrenntheit, bleiben
sich aber fremd, weil sie noch nicht gelernt haben, sich zu
lieben. (Dies geht auch sehr klar daraus hervor, daß Adam sich
verteidigt, indem er Eva anklagt, anstatt daß er versucht, sie zu
verteidigen.) Das Bewußtsein der menschlichen Getrenntheit
ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der
Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und
Angst.
Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine
Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner
Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei
diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische
Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu
überwinden ist, daß man sich so völlig von der Außenwelt
zurückzieht, daß das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet,
und zwar weil die Außenwelt, von der man abgetrennt ist,
verschwunden ist.
Der Mensch sieht sich - zu allen Zeiten und in allen Kulturen
- vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen
Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er
zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben
transzendieren und das Einswerden erreichen kann. Die Frage
stellt sich dem Primitiven in seiner Höhle wie dem Nomaden,
der seine Herde hütet, dem ägyptischen Bauern, dem
phönizischen Händler, dem römischen Soldaten, dem
mittelalterlichen Mönch, dem japanischen Samurai, dem
modernen Büroangestellten und dem Fabrikarbeiter auf gleiche
Weise. Es ist immer die gleiche Frage, denn sie entspringt dem
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gleichen Boden, der menschlichen Situation, den Bedingungen
der menschlichen Existenz. Die Antwort jedoch ist nicht immer
die gleiche. Die Frage kann mit der Verehrung von Tieren, mit
Menschenopfern oder militärischen Eroberungen, mit einem
üppigen Lebenswandel, mit asketischem Verzicht, mit
besessenem Arbeitseifer, mit künstlerischem Schaffen, mit der
Liebe zu Gott und mit der Liebe zum Menschen beantwortet
werden. Es gibt zwar viele Antworten - sie machen zusammen
die Geschichte der Menschheit aus -, aber ihre Zahl ist trotzdem
nicht unendlich. Im Gegenteil entdeckt man, wenn man kleinere
Unterschiede außer acht läßt, welche mehr an der Peripherie als
im Zentrum liegen, daß nur eine begrenzte Zahl von Antworten
gegeben worden ist und vom Menschen in seinen verschiedenen
Kulturen auch nur gegeben werden konnte. Die Geschichte der
Religion und der Philosophie ist die Geschichte dieser
Antworten in ihrer Vielfalt wie auch in ihrer zahlenmäßigen
Begrenzung. Bis zu einem gewissen Grade hängen die
Antworten vom Grad der Individuation ab, die der Mensch
jeweils erreicht hat. Beim Kind ist das Ich noch wenig
entwickelt. Es fühlt sich noch eins mit seiner Mutter und hat
nicht das Gefühl des Getrenntseins, solange die Mutter in seiner
Nähe ist. Sein Gefühl des Alleinseins wird durch die körperliche
Gegenwart der Mutter, ihre Brust, ihre Haut aufgehoben. Nur in
dem Maße, wie sich beim Kind das Gefühl des Getrenntseins
und der Individualität entwickelt, genügt ihm die physische
Gegenwart der Mutter nicht mehr, und es hat das Bedürfnis, sein
Getrenntsein auf andere Weise zu überwinden.
Ähnlich fühlt sich auch die menschliche Rasse in ihrem
Kindheitsstadium noch eins mit der Natur. Die Erde, die Tiere,
die Pflanzen sind noch des Menschen Welt. Er identifiziert sich
mit den Tieren, was darin zum Ausdruck kommt, daß er
Tiermasken trägt und ein Totemtier oder Tiergötter verehrt.
Aber je mehr sich die menschliche Rasse aus diesen primären
Bindungen löst, um so mehr trennt sie sich von der Welt der
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Natur, um so intensiver wird ihr Bedürfnis, neue Mittel und
Wege zu finden, um dem Getrenntsein zu entrinnen.
Eine Möglichkeit hierzu sind orgiastische Zustände der
verschiedensten Art. Es kann sich dabei um autosuggestive
Trancezustände handeln, bei denen manchmal Drogen zu Hilfe
genommen werden. Viele Rituale primitiver Stämme bieten ein
anschauliches Bild dieser Art, das Problem zu lösen. In einem
vorübergehenden Zustand der Exaltation verschwindet die
Außenwelt und damit auch das Gefühl, von ihr abgesondert zu
sein. Werden diese Rituale gemeinsam praktiziert, so kommt das
Erlebnis der Vereinigung mit der Gruppe hinzu, was die
Wirkung noch erhöht. Eng verwandt mit dieser orgiastischen
Lösung ist das sexuelle Erlebnis, das oft mit ihr Hand in Hand
geht. Der sexuelle Orgasmus kann einen Zustand herbeiführen,
der einem Trancezustand oder der Wirkung gewisser Drogen
ähnlich ist. Zu vielen primitiven Ritualen gehören Riten
gemeinsamer sexueller Orgien. Es scheint, daß der Mensch nach
dem orgiastischen Erlebnis eine Zeitlang weiterleben kann, ohne
allzusehr unter seinem Abgetrenntsein zu leiden. Langsam
nimmt dann die Spannung der Angst wieder zu, so daß sie durch
die Wiederholung des Rituals wieder gemildert werden muß.
Solange diese orgiastischen Zustände in einem Stamm
gemeinsam erlebt werden, erzeugen sie keine Angst und keine
Schuldgefühle. Sich so zu verhalten ist richtig und sogar eine
Tugend, weil alle es tun und weil es von den Medizinmännern
und Priestern gebilligt und sogar verlangt wird; es besteht daher
kein Grund für ein schlechtes Gewissen, kein Grund, sich zu
schämen. Etwas völlig anderes ist es, wenn ein einzelner sich in
einer Kultur, die diese gemeinsamen Riten aufgegeben hat, für
eine solche Lösung entscheidet. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit
sind die entsprechenden Auswege für den einzelnen
in einer nichtorgiastischen Kultur. Im Gegensatz zu denen, die
sich an der gesellschaftlich sanktionierten Lösungsmethode
beteiligen, leiden derartige Einzelgänger an Schuldgefühlen und
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Gewissensbissen. Sie versuchen zwar, ihrem Abgetrenntsein
dadurch zu entrinnen, daß sie ihre Zuflucht zu Alkohol und
Rauschgift nehmen, aber wenn das orgiastische Erlebnis vorüber
ist, fühlen sie sich nur um so stärker isoliert und immer häufiger
und intensiver dazu getrieben. Etwas anderes ist es, wenn
jemand seine Zuflucht zum sexuellen Orgasmus nimmt. Bis zu
einem gewissen Grade ist dieser eine natürliche und normale Art
der Überwindung des Abgetrenntseins und eine Teillösung für
das Problem der Isolation. Aber bei vielen, die es nicht
fertigbringen, auf andere Weise aus ihrer Abgetrenntheit
herauszufinden, übernimmt das Verlangen nach dem sexuellen
Orgasmus eine Funktion, die sich nicht allzusehr vom
Alkoholismus und der Drogenabhängigkeit unterscheidet. Er
wird zum verzweifelten Versuch, der durch das Abgetrenntsein
erzeugten Angst zu entrinnen, und führt zu einem ständig
wachsenden Gefühl des Abgetrenntseins, da der ohne Liebe
vollzogene Sexualakt höchstens für den Augenb lick die Kluft
zwischen zwei menschlichen Wesen überbrücken kann.
Alle Formen der orgiastischen Vereinigung besitzen drei
Merkmale: Sie sind intensiv, ja sogar gewalttätig; sie erfassen
die Gesamtpersönlichkeit, Geist und Körper; und sie sind
vorübergehend und müssen regelmäßig wiederholt werden.
Genau das Gegenteil gilt für jene Form der Vereinigung,
welche bei weitem die häufigste Lösung ist, für die sich der
Mensch in der Vergangenheit wie in der Gegenwart entschieden
hat: die Vereinigung, die auf der Konformität mit der Gruppe
beruht, mit ihren Sitten, Praktiken und Überzeugungen. Auch
hier erkennen wir, daß eine beträchtliche Entwicklung stattgefunden
hat.
In einer primitiven Gesellschaft ist die Gruppe klein; sie
besteht aus jenen Menschen, mit welche n man Blut und Boden
gemeinsam hat. In dem Maße, wie sich die Kultur
weiterentwickelt, vergrößert sich die Gruppe; sie wird zur
Bürgerschaft einer polis, zu den Bürgern eines großen Staates,
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zu den Mitgliedern einer Kirche. Selbst der ärmste Römer war
stolz darauf, von sich sagen zu können: »civis romanus sum«.
Rom und das Römische Reich waren seine Familie, sein
Zuhause, seine Welt. Auch in unserer heutigen Gesellschaft des
Westens ist die Gemeinschaft mit der Gruppe der am häufigsten
eingeschlagene Weg, die Abgetrenntheit zu überwinden. Es ist
eine Vereinigung, in der das individuelle Selbst weitgehend
aufgeht und bei der man sich zum Ziel setzt, der Herde
anzugehören. Wenn ich so bin wie alle anderen, wenn ich keine
Gefühle oder Gedanken habe, die mich vo n ihnen unterscheiden,
wenn ich mich der Gruppe in meinen Gewohnheiten, meiner
Kleidung und meinen Ideen anpasse, dann bin ich gerettet
gerettet vor der angsterregenden Erfahrung des Alleinseins.
Diktatorische Systeme wenden Drohungen und Terror an, um
diese Konformität zu erreichen, die demokratischen Staaten
bedienen sich zu diesem Zweck der Suggestion und der
Propaganda. Ein großer Unterschied besteht allerdings zwischen
diesen beiden Systemen: In Demokratien ist Nicht-Konformität
möglich und fehlt auch keineswegs völlig; in den totalitären
Systemen kann man höchstens von ein paar aus dem Rahmen
fallenden Helden und Märtyrern erwarten, daß sie den
Gehorsam verweigern. Aber trotz dieses Unterschiedes weisen
auch die demokratischen Gesellschaften eine überaus starke
Konformität auf. Das liegt daran, daß das Verlangen nach
Vereinigung notwendig eine Antwort finden muß, und wenn
sich keine andere oder bessere findet, so setzt sich die
Herdenkonformität durch. Man kann die Angst, sich auch nur
wenige Schritte abseits von der Herde zu befinden und anders zu
sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis
ist, nicht isoliert zu sein. Manchmal rationalisiert man die Furcht
vor der Nicht-Konformität als Angst vor den praktischen
Gefahren, die dem Nonkonformisten drohen könnten.
Tatsächlich aber möchten die Leute in viel stärkerem Maß mit
den anderen konform gehen, als sie - wenigstens in den
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westlichen Demokratien - dazu gezwungen werden.
Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach
Konformität nicht einmal bewußt. Sie leben in der Illusion, sie
folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien
Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren
Meinungen gelangt und es sei reiner Zufall, daß sie in ihren
Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller
sehen sie den Beweis für die Richtigkeit »ihrer« Ideen. Den
kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen
geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten
von den anderen zu unterscheiden suchen; die Anfangsbuchstaben
ihres Namens auf dem Handkoffer oder dem Pullover,
das Namensschildchen des Schalterbeamten oder die Zugehörigkeit
zu verschiedenen Parteien oder Studentenverbindungen:
Solche Dinge dienen dazu, individuelle Unterschiede zu
betonen. In dem Werbeslogan, daß etwas »anders ist als...«,
kommt dieses Bedürfnis sich von anderen zu unterscheiden, zum
Ausdruck. In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede.
Die wachsende Neigung zum Ausmerzen von Unterschieden
hängt eng zusammen mit dem Begriff der Gleichheit und der
entsprechenden Erfahrung, wie er sich in den am weitesten
fortgeschrittenen Industriegesellschaften entwickelt hat.
Gleichheit im religiösen Sinne bedeutete, daß wir alle Gottes
Kinder sind und alle an der gleichen menschlichgöttlichen
Substanz teilhaben, daß wir alle eins sind.-Sie bedeutete aber
auch, daß gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen
Individuen respektiert werden sollten: Wir sind zwar alle eins,
aber jeder von uns ist zugleich ein einzigartiges Wesen, ein
Kosmos für sich. Die Überzeugung von der Einzigartigkeit des
Individuums drückt folgender Satz aus dem Talmud beispielhaft
aus: »Wer ein einziges Leben rettet, hat damit gleichsam die
ganze Welt gerettet; wer ein einziges Leben zerstört, hat damit
gleichsam die ganze Welt zerstört.« Auch in der westlichen
Aufklärungsphilosophie galt Gleichheit als eine Bedingung für
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die Entwicklung von Individualität. Am klarsten hat dies Kant
formuliert, als er sagte, kein Mensch dürfe einem anderen Mittel
zum Zweck sein, und die Menschen seien sich daher insofern
gleich, als sie alle Zweck und nur Zweck und niemals Mittel
füreinander seien. Im Anschluß an die Ideen der Aufklärung
haben sozialistische Denker verschiedener Schulen die
Gleichheit als die Abschaffung der Ausbeutung bezeichnet, als
das Ende der Verwendung des Menschen durch den Menschen
ohne Rücksicht darauf, ob dies auf grausame oder »humane«
Weise geschieht.
In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft hat sich die
Bedeutung des Begriffs Gleichheit geändert. Man versteht heute
darunter die Gleichheit von Automaten, von Menschen, die ihre
Individualität verloren haben. Gleichheit bedeutet heute
»Dasselbe-Sein« und nicht mehr »Eins-Sein«. Es handelt sich
um die Einförmigkeit von Abstraktionen, von Menschen, die
den gleichen Job haben, die die gleichen Vergnügungen haben,
die gleichen Zeitungen lesen und das gleiche fühlen und denken.
In dieser Hinsicht sollte man auch gewisse Errungenschaften,
die im allgemeinen als Zeichen unseres Fortschritts gepriesen
werden, mit Skepsis betrachten, wie etwa die Gleichberechtigung
der Frau. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen,
daß ich nichts gegen die Gleichberechtigung habe; aber die
positiven Seiten dieser Gleichheitstendenz dürfen uns nicht
darüber hinwegtäusche n, daß es sich hier auch um die Tendenz
zur Ausmerzung von Unterschieden handelt. Man erkauft sich
die Gleichheit eben zu dem Preis, daß die Frauen gleichgestellt
werden, weil sie sich nicht mehr von den Männern
unterscheiden. Die These der Aufklärungsphilosophie, l'âme n'a
pas de sexe (die Seele hat kein Geschlecht), gilt heute ganz
allgemein. Die Polarität der Geschlechter ist im Verschwinden
begriffen, und damit verschwindet auch die erotische Liebe, die
auf dieser Polarität beruht. Männer und Frauen werden sich
gleich und sind nicht mehr gleichberechtigt als entgegengesetzte
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Pole. Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer
nichtindividualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome
braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im
Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle
den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt
ist, das zu tun, was er will. Genauso wie die moderne
Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse
verlangt, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozeß die
Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung
nennt man dann »Gleichheit«.
Vereinigung durch Konformität vollzieht sich weder intensiv
noch heftig; sie erfolgt ruhig, routinemäßig und bringt es
ebendeshalb oft nicht fertig, die Angst vor dem Abgetrenntsein
zu mildern. Die Häufigkeit von Alkoholismus, Drogen,
zwanghafter Sexualität und Selbstmord in Her heutigen
westlichen Gesellschaft ist ein Symptom für dieses relative
Versagen der Herdenkonformität. Außerdem betrifft auch diese
Lösung hauptsächlich den Geist und nicht den Körper und ist
auch deshalb im Vergleich zu den orgiastischen Lösungen im
Nachteil. Die Herdenkonformität besitzt nur den einen Vorteil,
daß sie permanent und nicht nur kurzfristig ist. Der einzelne
wird schon im Alter von drei oder vier Jahren in das
Konformitätsmodell eingefügt und verliert dann niemals mehr
den Kontakt mit der Herde. Selbst seine Beerdigung, die er als
seine letzte große gesellschaftliche Veranstaltung vorausplant,
entspricht genau dem Modell.
Aber nicht nur die Konformität dient dazu, die aus dem
Abgetrenntsein entspringende Angst zu mildern, auch die
Arbeits- und Vergnügungsroutine dient diesem Zweck. Der
Mensch wird zu einer bloßen Nummer, zu einem Bestandteil der
Arbeiterschaft oder der Bürokratie aus Verwaltungsangestellten
und Managern. Er besitzt nur wenig eigene Initiative, seine
Aufgaben sind ihm durch die Organisation der Arbeit
vorgeschrieben; es besteht in dieser Hinsicht sogar kaum ein
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Unterschied zwischen denen oben auf der Leiter und denen, die
unten stehen. Sie alle erledigen Aufgaben, die ihnen durch die
Gesamtstruktur der Organisation vorgeschrieben sind, im
vorgeschriebenen Tempo und in der vorgeschriebenen Weise.
Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Man ha t fröhlich,
tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem
reibungslos auszukommen. Auch das Vergnügen ist in
ähnlicher, wenn auch nicht ganz so drastischer Weise zur
Routine geworden. Die Bücher werden von den Buchclubs, die
Filme von den Filmverleihern und Kinobesitzern mit Hilfe der
von ihnen finanzierten Werbeslogans ausgewählt und lanciert.
Auch alles andere verläuft in der gleichen Weise: die
sonntägliche Ausfahrt im eigenen Wagen, das Fernsehen, das
Kartenspielen und die Partys. Von der Geburt bis zum Tod, von
einem Montag zum anderen, von morgens bis abends ist alles,
was man tut, vorgefertigte Routine. Wie sollte ein Mensch, der
in diesem Routinenetz gefangen ist, nicht vergessen, daß er ein
Mensch, ein einzigartiges Individuum ist, dem nur diese einzige
Chance gegeben ist, dieses Leben mit seinen Hoffnungen und
Enttäuschungen, mit seinem Kummer und seiner Angst, mit
seiner Sehnsucht nach Liebe und seiner Furcht vor dem Nichts
und dem Abgetrenntsein zu leben?
Eine dritte Möglichkeit, zu ne uer Einheit zu gelangen, liegt in
schöpferischem Tätigsein, sei es das eines Künstlers oder das
eines Handwerkers. Bei jeder Art von schöpferischer Arbeit
vereinigt sich der schöpferische Mensch mit seinem Material,
das für ihn die Welt außerhalb seiner selbst repräsentiert. Ob ein
Tischler einen Tisch oder ein Goldschmied ein Schmuckstück
anfertigt, ob ein Bauer sein Kornfeld bestellt oder ein Maler ein
Bild malt, bei jeder dieser schöpferischen Tätigkeiten wird der
Schaffende eins mit seinem Werk, vereinigt sich der Mensch im
Schaffensprozeß mit der Welt. Dies gilt jedoch nur für die
produktive Arbeit, für eine Arbeit also, bei der ich es bin, der
plant, wirkt und bei der ich das Resultat meiner Arbeit sehe.
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Beim modernen Arbeitsprozeß des Büroangestellten oder des
Arbeiters am Fließband ist von dieser einenden Qualität der
Arbeit nur noch wenig übriggeblieben. Der Arbeiter ist zu einem
Anhängsel der Maschine oder der Organisation geworden. Er
hat aufgehört, er selbst zu sein - daher gibt es für ihn keine
Einheit mehr, sondern nur noch Konformität.
Die bei einer produktiven Arbeit erreichte Einheit ist nicht
zwischenmenschlicher Art; die bei einer orgiastischen
Vereinigung erreichte Einheit ist nur vorübergehend; die durch
Konformität erreichte Einheit ist eine Pseudo-Einheit. Daher
sind alle diese Lösungen nur Teillösungen für das Problem der
Existenz. Eine voll befriedigende Antwort findet man nur in der
zwischenmenschlichen Einheit, in der Vereinigung mit einem
anderen Menschen, in der Liebe.
Dieser Wunsch nach einer zwischenmenschlichen
Vereinigung ist das stärkste Streben im Menschen. Es ist seine
fundamentalste Leidenschaft, es ist die Kraft, welche die
menschliche Rasse, die Sippe, die Familie, die Gesellschaft
zusammenhält. Gelingt diese Vereinigung nicht, so bedeutet das
Wahnsinn oder Vernichtung - Selbstvernichtung oder Vernichtung
anderer. Ohne Liebe könnte die Menschheit nicht einen
Tag existieren. Wenn wir jedoch den Vollzug einer zwischenmenschlichen
Einheit als »Liebe« bezeichnen, geraten wir in
ernste Schwierigkeiten. Zu einer Vereinigung kann man auf
verschiedene Weise gelangen, und die Unterschiede sind nicht
weniger bedeutsam als das, was die verschiedenen Formen der
Liebe miteinander gemeinsam haben. Sollte man sie alle Liebe
nennen? Oder sollte man das Wort »Liebe« jener besonderen
Art von Vereinigung vorbehalten, die von allen großen
humanistischen Religionen und philosophischen Systemen der
letzten viertausend Jahre der Geschichte des Westens und des
Ostens als höchste Tugend angesehen wurde?
Wie bei allen semantischen Schwierigkeiten gibt es auch hier
keine allgemeingültige Antwort. Wir müssen uns darüber
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klarwerden, welche Art von Einheit wir meinen, wenn wir von
Liebe sprechen. Beziehen wir uns auf jene Liebe, die ein reifer
Mensch als Antwort auf das Existenzproblem gibt, oder
sprechen wir von jenen unreifen Formen der Liebe, die man als
symbiotische Vereinigung bezeichnen kann? Im folgenden
werde ich nur ersteres als Liebe bezeichnen; doch möchte ich
zunächst über die symbiotische Verbindung sprechen.
Die symbiotische Vereinigung besitzt ihr biologisches Modell
in der Beziehung zwischen der schwangeren Mutter und dem
Fötus. Sie sind zwei und doch eins. Sie »leben zusammen«
(Symbiose), sie brauchen einander. Der Fötus ist ein Teil der
Mutter und empfangt von ihr alles, was er braucht; die Mutter ist
sozusagen seine Welt, sie füttert ihn, sie beschützt ihn, aber auch
ihr eigenes Leben wird durch ihn bereichert. Bei der
psychischen symbiotischen Vereinigung sind zwar die beiden
Körper voneinander unabhängig, aber die gleiche Art von
Bindung existiert auf der psychologischen Ebene.
Die passive Form der symbiotischen Vereinigung ist die
Unterwerfung oder - wenn wir uns der klinischen Bezeichnung
bedienen - der Masochismus. Der masochistische Mensch
entrinnt dem unerträglichen Gefühl der Isolation und
Abgetrenntheit dadurch, daß er sich zu einem untrennbaren
Bestandteil einer anderen Person macht, die ihn lenkt, leitet und
beschützt; sie ist sozusagen sein Leben, sie ist die Luft, die er
atmet. Die Macht dessen, dem man sich unterwirft, ist
aufgebläht, sei es nun ein Mensch oder ein Gott. Er ist alles, ich
bin nichts, außer als ein Teil von ihm. Als ein Teil von ihm habe
ich teil an seiner Größe, seiner Macht und Sicherheit. Der
masochistisch Orientierte braucht selber keine Entschlüsse zu
fassen, er braucht kein Risiko einzugehen. Er ist nie allein aber
er ist nicht unabhängig; er besitzt keine Integrität; er ist noch
nicht ganz geboren. Im religiösen Kontext bezeichnet man den
Gegenstand einer solchen Verehrung als Götzen; im weltlichen
Kontext einer masochistischen Liebesbeziehung herrscht im
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wesentlichen der gleiche Mechanismus, nämlich der des
Götzendienstes. Die masochistische Beziehung kann mit
körperlichem, sexuellem Begehren gekoppelt sein; in diesem
Fall handelt es sich nicht nur um eine geistigseelische
Unterwerfung, sondern um eine, die den gesamten Körper
mitbetrifft. Es gibt eine masochistische Unterwerfung unter das
Schicksal, unter eine Krankheit, unter rhythmische Musik, unter
den durch Rauschgift oder durch Hypnose erzeugten
orgiastischen Zustand - in jedem Fall verzichtet der Betreffende
auf seine Integrität, macht er sich zum Instrument eines anderen
Menschen oder eines Dings außerhalb seiner selbst. Er ist dann
der Aufgabe enthoben, das Problem des Lebens durch
produktives Tätigsein zu lösen.
Die aktive Form der symbiotischen Vereinigung ist die
Beherrschung eines anderen Menschen oder - psychologisch
ausgedrückt und analog zum Masochismus - Sadismus. Der
sadistische Mensch möchte seiner Einsamkeit und seinem
Gefühl, ein Gefangener zu sein, dadurch entrinnen, daß er einen
anderen Menschen zu einem untrennbaren Bestandteil seiner
selbst macht. Er bläht sich auf und vergrößert sich, indem er sich
eine andere Person, die ihn verehrt, einverleibt.
Der Sadist ist von dem, der sich ihm unterwirft, ebenso
abhängig wie dieser von ihm; keiner von beiden kann ohne den
anderen leben. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Sadist
den anderen kommandiert, ausnutzt, verletzt und demütigt,
während der Masochist sich kommandieren, ausnutzen,
verletzen und demütigen läßt. Äußerlich gesehen, ist das ein
beträchtlicher Unterschied, aber in einem tieferen emotionalen
Sinn ist der Unterschied nicht so groß wie das, was beide
gemeinsam haben: Sie wollen Vereinigung ohne Integrität. Wer
das begreift, wird sich nicht darüber wundern, daß ein und
derselbe Mensch gewöhnlich sowohl auf sadistische wie auch
auf masochistische Weise reagiert - meist verschiedenen
Objekten gegenüber. Hitler zum Beispiel reagierte Menschen
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gegenüber vorwiegend auf sadistische Weise; dem Schicksal,
der Geschichte, der »Vorsehung« gegenüber benahm er sich
dagegen wie ein Masochist. Sein Ende - der Selbstmord inmitten
der allgemeinen Vernichtung - ist für ihn ebenso kennzeichnend
wie sein Traum vom Erfolg, von der totalen Herrschaft. (Zum
Problem Sadismus - Masochismus vgl. E. Fromm, 1941a.)
Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife
Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und
Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im
Menschen. Sie ist eine Kraft, welche die Wände niederreißt, die
den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, eine Kraft, die
ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe läßt ihn das Gefühl der
Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm,
trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten. In der
Liebe kommt es zu dem Paradoxon, daß zwei Wesen eins
werden und trotzdem zwei bleiben. Wenn wir sagen, die Liebe
sei eine Aktivität, so stehen wir einer Schwierigkeit gegenüber,
die in der Mehrdeutigkeit des Wortes »Aktivität« liegt. Unter
Aktivität im modernen Sinn des Wortes versteht man
gewöhnlich eine Tätigkeit, die durch Aufwand von Energie eine
Änderung in einer bestehenden Situation herbeiführt. So
betrachtet man jemanden als aktiv, wenn er geschäftlich tätig ist,
wenn er Medizin studiert, am Fließband arbeitet, einen Tisch
herstellt oder Sport treibt. Allen diesen Tätigkeiten ist
gemeinsam, daß sie sich jeweils auf ein bestimmtes äußeres Ziel
richten, welches man erreichen möchte. Nicht berücksichtigt
wird dagegen die Motivation der Aktivität. Nehmen wir zum
Beispiel einen Menschen, der sich durch ein tiefes Gefühl der
Unsicherheit und Einsamkeit zu pausenlosem Arbeiten getrieben
fühlt; oder einen anderen, den Ehrgeiz oder Geldgier treibt. In
all diesen Fällen ist der Betreffende der Sklave einer
Leidenschaft, und seine Aktivität ist in Wirklichkeit Passivität,
weil er dazu getrieben wird. Er ist ein »Leidender«, er erfährt
sich in der »Leideform« (Passiv) und nicht in der
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»Tätigkeitsform« (Aktiv); er ist kein »Tätiger«, er ist nicht
selbst der »Akteur«. Im Gegensatz dazu hält man einen
Menschen, der ruhig dasitzt, sich der Kontemplation hingibt und
dabei keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel im Auge hat,
als sich selbst und sein Einssein mit der Welt zu erleben, für
»passiv«, weil er nichts »tut«. In Wirklichkeit aber ist diese
konzentrierte Meditation die höchste Aktivität, die es gibt, eine
Aktivität der Seele, deren nur der innerlich freie, unabhängige
Mensch fähig ist. Die eine Auffassung von Aktivität, nämlich
unsere moderne, bezieht sich auf die Verwendung von Energie
zur Erreichung äußerer Ziele; die andere bezieht sich auf die
Verwendung der dem Menschen innewohnenden Kräfte ohne
Rücksicht darauf, ob damit eine äußere Veränderung bewirkt
wird oder nicht. Am klarsten hat Spinoza diese Auffassung von
Aktivität formuliert. Bei den Affekten unterscheidet er zwischen
aktiven und passiven Affekten, zwischen actiones und
passiones. Wenn der Mensch aus einem aktiven Affekt heraus
handelt, ist er frei, ist er Herr dieses Affekts; handelt er dagegen
aus einem passiven Affekt heraus, so ist er ein Getriebener, das
Objekt von Motivationen, deren er sich selbst nicht bewußt ist.
So gelangt Spinoza zu der Feststellung, daß Tugend und
Vermögen (= Macht, etwas zu bewirken) ein und dasselbe sind
(Spinoza, Ethik, Teil IV, 8. Begriffsbestimmung). Neid,
Eifersucht, Ehrgeiz und jede Art von Gier sind passiones, die
Liebe dagegen ist eine actio, die Betätigung eines menschlichen
Vermögens, das nur in Freiheit und nie unter Zwang möglich ist.
Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist
etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man
verfällt. Ganz allgemein kann man den aktiven Charakter der
Liebe so beschreiben, daß man sagt, sie ist in erster Linie ein
Geben und nicht ein Empfangen.
Was heißt geben? So einfach die Antwort auf diese Frage
scheinen mag, ist sie doch tatsächlich doppelsinnig und ziemlich
kompliziert. Das verbreitetste Mißverständnis besteht in der
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Annahme, geben heiße etwas »aufgeben«, dessen man damit
beraubt wird und das man zum Opfer bringt. Jemand, dessen
Charakter sich noch nicht über das Stadium der rezeptiven,
ausbeuterischen oder hortenden Orientierung hinausentwickelt
hat, erfährt den Akt des Gebens auf diese Weise. Der
Marketing-Charakter ist zwar bereit, etwas herzugeben, jedoch
nur im Austausch für etwas anderes, das er empfängt; zu geben,
ohne etwas zu empfangen, ist für ihn gleichbedeutend mit
Betrogenwerden. (Zu den genannten Charakter-Orientierungen
vgl. E. Fromm, 1974a.) Menschen, die im wesentlichen
nichtschöpferisch orientiert sind, empfinden das Geben als eine
Verarmung. Die meisten Menschen dieses Typs weigern sich
daher, etwas herzugeben. Manche machen aus dem Geben eine
Tugend im Sinne eines Opfers. Sie haben das Gefühl, man sollte
eben deshalb geben, weil es so schwerfällt; das Geben wird erst
dadurch, daß sie bereit sind, ein Opfer zu bringen, für sie zur
Tugend. Für sie bedeutet das Gebot »Geben ist seliger denn
Nehmen«, daß es besser sei, Entbehrungen zu erleiden als
Freude zu erfahren.
Für den produktiven Charakter hat das Geben eine ganz
andere Bedeutung. Für ihn ist Geben höchster Ausdruck seines
Vermögens. Gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine
Stärke, meinen Reichtum, meine Macht. Dieses Erlebnis meiner
gesteigerten Vitalität und Potenz erfüllt mich mit Freude. Ich
erlebe mich selbst als überströmend, hergebend, lebendig und
voll Freude. (Vgl. die Begriffsbestimmung von Freude als
»Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit
« in Spinozas Ethik, Teil III, Begriffsbestimmungen
der Affekte.) Geben bereitet mehr Freude als Empfangen nicht
deshalb, weil es ein Opfer ist, sondern weil im Akt des
Schenkens die eigene Lebendigkeit zum Ausdruck kommt.
Es dürfte nicht schwerfallen, die Richtigkeit dieses Prinzips
zu erkennen, wenn man verschiedene spezifische Phänomene
daraufhin untersucht. Das elementarste Beispiel finden wir im
-31-
Bereich der Sexualität. Der Höhepunkt der männlichen
Sexualfunktion liegt im Akt des Gebens; der Mann gibt sich
selbst, gibt sein Geschlechtsorgan der Frau. Im Augenblick des
Orgasmus gibt er ihr seinen Samen. Er kann nicht anders, wenn
er potent ist; wenn er nicht geben kann, ist er impotent. Bei der
Frau handelt es sich um den gleichen Prozeß, wenn er auch
etwas komplexer abläuft.
Auch sie gibt sich; sie öffnet die Tore zum Innersten ihrer
Weiblichkeit; im Akt des Empfangens gibt sie. Wenn sie zu
diesem Akt des Gebens nicht fähig ist, wenn sie nur empfangen
kann, ist sie frigid. Bei ihr gibt es einen weiteren Akt des
Gebens, nicht als Geliebte, sondern als Mutter. Sie gibt sich
dann dem Kind, das in ihr wächst, sie gibt dem Säugling ihre
Milch, sie gibt ihm ihre körperliche Wärme. Nicht zu geben
wäre schmerzlich für sie.
Im Bereich des Materiellen bedeutet Geben, reich zu sein.
Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt.
Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist
psychologisch gesehen ein armer Habenichts, ganz gleich,
wieviel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas
von sich zu geben, ist reich. Er erfährt sich selbst als jemand, der
anderen etwas von sich abgeben kann. Eigentlich hat nur der,
der nichts als das Allernotwendigste zum Leben hat, keine
Möglichkeit, sich damit eine Freude zu machen, daß er anderen
materielle Dinge gibt. Aber die tägliche Erfahrung lehrt, daß es
ebenso vom Charakter wie vom tatsächlichen Besitz abhängt,
was jemand als sein Existenzminimum ansieht. Bekanntlich sind
die Armen eher gewillt zu geben als die Reichen. Dennoch kann
Armut, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, es
unmöglich machen zu geben, und sie ist dann nicht nur wegen
der Entbehrungen, die sie unmittelbar verursacht, so
erniedrigend, sondern auch weil sie dem Armen die Freude des
Gebens nicht erlaubt.
Der wichtigste Bereich des Gebens liegt jedoch nicht im
-32-
Materiellen, sondern im zwischenmenschlichen Bereich. Was
gibt ein Mensch dem anderen? Er gibt etwas von sich selbst,
vom Kostbarsten, was er besitzt, er gibt etwas von seinem
Leben. Das bedeutet nicht unbedingt, daß er sein Leben für den
anderen opfert - sondern daß er ihm etwas von dem gibt, was in
ihm lebendig ist; er gibt ihm etwas von seiner Freude, von
seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen,
von seinem Humor, von seiner Traurigkeit - von allem, was in
ihm lebendig ist. Indem er dem anderen auf diese Weise etwas
von seinem Leben abgibt, bereichert er ihn, steigert er beim
anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit
dieses Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst. Er gibt
nicht, um selbst etwas zu empfangen; das Geben ist an und für
sich eine erlesene Freude. Indem er gibt, kann er nicht umhin,
im anderen etwas zum Leben zu erwecken, und dieses zum
Leben Erweckte strahlt zurück auf ihn; wenn jemand wahrhaft
gibt, wird er ganz von selbst etwas zurückempfangen. Zum
Geben gehört, daß es auch den anderen zum Geber macht, und
beide haben ihre Freude an dem, was sie zum Leben erweckt
haben. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und die beiden
beteiligten Menschen sind dankbar für das Leben, das für sie
beide geboren wurde. Für die Liebe insbesondere bedeutet dies:
Die Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt. Impotenz ist die
Unfähigkeit, Liebe zu erzeugen. Marx hat diesem Gedanken
sehr schönen Ausdruck verliehen, wenn er sagt: »Setze den
Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein
menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe
austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die
Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter
Mensch sein; wenn du Einfluß auf andere Menschen ausüben
willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere
Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse
zum Menschen und zu der Natur muß eine bestimmte, dem
Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines
-33-
wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne
Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als
Liebe nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch eine
Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten
Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück«
(K. Marx, 1971, S. 301).
Aber nicht nur in der Liebe bedeutet geben empfangen. Der
Lehrer lernt von seinen Schülern, der Schauspieler wird von
seinen Zuschauern angespornt, der Psychoanalytiker wird von
seinen Patienten geheilt - vorausgesetzt, daß sie einander nicht
wie leblose Gegenstände behandeln, sondern echt und
schöpferisch zueinander in Beziehung treten.
Wir brauchen wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, daß
die Fähigkeit zur Liebe - wird Liebe als ein Akt des Gebens
verstanden - von der Charakterentwicklung des Betreffenden
abhängt. Sie setzt voraus, daß er bereits zu einer vorherrschend
produktiven Orientierung gelangt ist; bei einer solchen
Orientierung hat der Betreffende seine Abhängigkeit, sein
narzißtisches Allmachtsgefühl, den Wunsch, andere auszubeuten,
oder den Wunsch zu horten überwunden; er glaubt an
seine eigenen menschlichen Kräfte und hat den Mut, auf seine
Kräfte zu vertrauen. In dem Maß, wie ihm diese Eigenschaften
fehlen, hat er Angst, sich hinzugeben - Angst zu lieben.
Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr »aktiver«
Charakter zeigt sich auch darin, daß sie in allen ihren Formen
stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl,
Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.
Daß zur Liebe Fürsorge gehört, zeigt sich am deutlichsten in
der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Keine Beteuerung ihrer
Liebe käme uns aufrichtig vor, wenn sie es an Fürsorge für das
Kind fehlen ließe, wenn sie versäumte, es zu ernähren, zu baden
und für sein leibliches Wohl zu sorgen; und wir fühlen uns von
ihrer Liebe beeindruckt, wenn wir sehen, wie sie für ihr Kind
sorgt. Mit der Liebe zu Tieren und Blumen ist es nicht anders.
-34-
Wenn eine Frau behauptet, sie liebe Blumen, und wir sehen
dann, wie sie vergißt, sie zu gießen, dann glauben wir ihr ihre
»Blumenliebe« nicht. Liebe ist die tätige Sorge für das Leben
und das Wachstum dessen, was wir lieben. Wo diese tätige
Sorge fehlt, ist auch keine Liebe vorhanden. Dieses Element der
Liebe ist besonders schön im Buch Jona beschrieben. Gott hat
Jona aufgetragen, sich nach Ninive zu begeben und die
Bewohner zu warnen, daß sie bestraft würden, wenn sie ihren
schlimmen Lebenswandel nicht änderten. Jona versucht sich
dem Auftrag zu entziehen, weil er fürchtet, die Bewohner
Ninives könnten bereuen und Gott würde ihnen dann vergeben.
Er ist ein Mann mit einem starken Gefühl für Gesetz und
Ordnung, aber ihm fehlt die Liebe. Doch bei seinem Versuch zu
fliehen, findet er sich im Bauch des Walfisches wieder, was den
Zustand der Isolation und Gefangenschaft symbolisiert, in den er
durch seinen Mangel an Liebe und Solidarität geraten ist. Gott
rettet ihn, und Jona geht nach Ninive. Er predigt den
Bewohnern, was Gott ihm aufgetragen hat, und eben das, was er
befürchtet hat, tritt ein: Die Bewohner Ninives bereuen ihre
Sünden und bessern ihren Lebenswandel; Gott vergibt ihnen und
beschließt, die Stadt nun doch nicht zu vernichten. Jona ist
überaus ärgerlich und enttäuscht darüber. Er wollte, daß
»Gerechtigkeit« und nicht Gnade walten solle. Schließlich findet
er einigen Trost im Schatten eines Baumes, den Gott für ihn
wachsen ließ, um ihn vor der Sonne zu schützen. Aber als Gott
den Baum verdorren läßt, ist Jona niedergeschlagen, und er
beschwert sich bei Gott. »Darauf sagte der Herr: Dir ist es leid
um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du
nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er
eingegangen. Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die
große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen
leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können -
und außerdem noch so viel Vieh?« (Jon 4,10f.). Was Gott Jona
antwortet, ist symbolisch zu verstehen. Er erklärt ihm, daß das
-35-
Wesen der Liebe darin besteht, für etwas »zu arbeiten« und
»etwas aufzuziehen«, daß Liebe und Arbeit nicht voneinander
zu trennen sind. Man liebt das, wofür man sich müht, und man
müht sich für das, was man liebt.
Neben der Fürsorge gehört noch ein weiterer Aspekt zur
Liebe: das Verantwortungsgefühl. Heute versteht man unter
Verantwortungsgefühl häufig »Pflicht«, also etwas, das uns von
außen auferlegt wird. Aber in seiner wahren Bedeutung ist das
Verantwortungsgefühl etwas völlig Freiwilliges; es ist meine
Antwort auf die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen
Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für
jemanden »verantwortlich« zu fühlen heißt fähig und bereit sein
zu »antworten«. Jona fühlte sich für die Bewohner von Ninive
nicht verantwortlich. Er hätte wie Kain fragen können: »Bin ich
der Hüter meines Bruders?« (Gen 4,9). Der liebende Mensch
antwortet. Das Leben seines Bruders geht nicht nur diesen
Bruder allein, sondern auch ihn an. Er fühlt sich für seine
Mitmenschen genauso verantwortlich wie für sich selbst. Das
Verantwortungsgefühl der Mutter für ihr Kind bezieht sich
hauptsächlich auf ihre Fürsorge für dessen körperliche
Bedürfnisse. Bei der Liebe zwischen Erwachsenen bezieht sich
das Verantwortungsgefühl hauptsächlich auf die seelischen
Bedürfnisse des anderen.
Das Verantwortungsgefühl könnte leicht dazu verleiten, den
anderen beherrschen und ihn für sich besitzen zu wollen, wenn
eine dritte Komponente der Liebe nicht hinzukommt: die
Achtung vor dem anderen. Achtung hat nichts mit Furcht und
nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit,
jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige
Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht sich darauf, daß
man ein echtes Interesse daran hat, daß der andere wachsen und
sich entfalten kann. Daher impliziert Achtung das Fehlen von
Ausbeutung. Ich will, daß der andere um seiner selbst willen
und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet und nicht
-36-
mir zuliebe. Wenn ich den anderen wirklich liebe, fühle ich
mich eins mit ihm, aber so, wie er wirklich ist, und nicht, wie ich
ihn als Objekt zu meinem Gebrauch benötige. Es ist klar, daß
ich nur Achtung vor einem anderen haben kann, wenn ich selbst
zur Unabhängigkeit gelangt bin, wenn ich ohne Krücken stehen
und laufen kann und es daher nicht nötig habe, einen anderen
auszubeuten. Achtung gibt es nur auf der Grundlage der
Freiheit: L'amour est Venfant de la liberté heißt es in einem
alten französischen Lied. Die Liebe ist das Kind der Freiheit,
niemals das der Beherrschung.
Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein
wirkliches Kennen des anderen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl
für einen anderen wären blind, wenn sie nicht von
Erkenntnis geleitet würden. Meine Erkenntnis wäre leer, wenn
sie nicht von der Fürsorge für den anderen motiviert wäre. Es
gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt
der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum
Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse
transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. So
kann ich zum Beispiel merken, daß jemand sich ärgert, selbst
wenn er es nicht offen zeigt; aber ich kann ihn auch noch tiefer
kennen, und dann weiß ich, daß er Angst hat und sich Sorgen
macht, daß er sich einsam und schuldig fühlt. Dann weiß ich,
daß sein Ärger nur die Manifestation von etwas ist, was tiefer
liegt, und ich sehe in ihm dann den verängstigten und
verwirrten, das heißt den leidenden und nicht den verärgerten
Menschen.
Solche Erkenntnis steht noch in einer anderen, noch
grundlegenderen Beziehung zum Problem der Liebe. Das
Grundbedürfnis, sich mit einem anderen Menschen zu
vereinigen, um auf diese Weise dem Kerker des eigenen
Abgetrenntseins zu entrinnen, ist eng verwandt mit einem
anderen spezifisch menschlichen Verlangen, nämlich dem, »das
Geheimnis des Menschen« zu ergründen. Das Leben ist nicht
-37-
nur in seinen rein biologischen Aspekten ein Wunder und ein
Geheimnis, der Mensch ist für sich und für seine Mitmenschen
auch in seinen menschlichen Aspekten ein unergründliches
Geheimnis. Wir kennen uns - und kennen uns doch auch wieder
nicht, sosehr wir uns darum auch bemühen mögen. Wir kennen
unseren Mitmenschen und kennen ihn doch auch wieder nicht,
weil wir kein Ding sind und weil unser Mitmensch ebenfalls
kein Ding ist. Je weiter wir in die Tiefe unseres eigenen Seins
oder das eines anderen Menschen hinabreichen, um so mehr
entzieht sich uns das, was wir erkennen möchten. Trotzdem
können wir den Wunsch nicht unterdrücken, in das Geheimnis
der Seele des Menschen, in den innersten Kern seines wahren
Wesens einzudringen.
Es gibt eine verzweifelte Möglichkeit, dies zu erreichen: Sie
besteht darin, den anderen völlig in seine Gewalt zu bekommen,
ihn mit Macht dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen, das
zu fühlen, was wir wollen, das zu denken, was wir wollen, so
daß er in ein Ding, in unseren Besitz verwandelt wird. Dieser
äußerste Versuch, den anderen zu »erkennen«, ist bei extremen
Formen des Sadismus gegeben, im Wunsch und in der
Fähigkeit, ein menschliches Wesen leiden zu lassen, es zu
quälen, es zu zwingen, in seinem Leiden sein Geheimnis
preiszugeben. Dieses Verlangen, in das Geheimnis eines
anderen Menschen und damit in das eigene Geheimnis
einzudringen, ist im wesentlichen die Motivation für die Tiefe
und Intensität der Grausamkeit und Destruktivität. Isaac Babel
hat diesen Gedanken prägnant zum Ausdruck gebracht. Er zitiert
einen Offizierskameraden im Russischen Bürgerkrieg, der,
nachdem er seinen früheren Herrn zu Tode getrampelt hatte,
sagte: »Ich würde sagen, mit Schießen schafft man sich so einen
Kerl nur vom Hals... aber mit Schießen kommt man nicht an die
Seele heran, wo die in dem Kerl ist und wie sie sich zeigt. Aber
ich schon' mich nicht und ich hab' schon mehr als einmal auf
einem Feind über eine Stunde lang herumgetrampelt.
-38-
Weißt du, ich möchte herauskriegen, was das Leben wirklich
ist, was das mit unserem Leben so auf sich hat.« (1. Babel,
1955)
Bei Kindern können wir beobachten, wie sie diesen Weg zur
Erkenntnis ganz offen einschlagen. Das Kind nimmt etwas
auseinander, es zerbricht es, um es kennenzulernen; oder es
zerlegt ein Tier, es reißt grausam einem Schmetterling die
Flügel aus, um ihn kennenzulernen, ihm sein Geheimnis
gewaltsam zu entreißen. Die Grausamkeit selbst ist durch etwas
Tieferes motiviert, durch den Wunsch, hinter das Geheimnis der
Dinge und des Lebens zu kommen.
Der andere Weg, »das Geheimnis« zu erkennen, ist die Liebe.
Liebe ist ein aktives Eindringen in den andern, wobei das eigene
Verlangen, ihn zu erkennen, durch die Vereinigung gestillt wird.
Im Akt der Vereinigung erkenne ich dich, erkenne ich mich,
erkenne ich alle die anderen, und ich »weiß« doch nichts. Ich
erkenne auf die einzige Weise, in welcher dem Menschen
Erkenntnis des Lebendigen möglich ist: im Erleben von Einheit
- und nicht aufgrund des Wissens, das mir mein Verstand
vermittelt. Der Sadismus ist vom Verlangen motiviert, das
Geheimnis zu durchschauen, doch bleibe ich dabei so unwissend
wie zuvor. Ich habe den anderen Glied um Glied auseinandergerissen,
aber ich habe damit nur erreicht, ihn zu zerstören.
Liebe ist der einzige Weg zur Erkenntnis, der im Akt der
Vereinigung mein Verlangen stillt. Im Akt der Liebe, im Akt der
Hingabe meiner selbst, im Akt des Eindringens in den anderen
finde ich mich selbst, entdecke ich mich selbst, entdecke ich uns
beide, entdecke ich den Menschen.
Das Verlangen, uns selbst und unseren Mitmenschen zu
erkennen, drückt sich in der Inschrift des Apollotempels in
Delphi aus: »Erkenne dich selbst.« Dieses Motto ist die
treibende Kraft der gesamten Psychologie. Aber da in uns das
Verlangen ist, alles über den Menschen zu wissen, sein innerstes
Geheimnis zu kennen, kann dieses Verlangen durch die
-39-
gewöhnliche Verstandeserkenntnis allein niemals gestillt
werden. Selbst wenn wir tausendmal mehr über uns wüßten,
kämen wir doch nie auf den Grund. Wir blieben uns immer ein
Rätsel, wie auch unsere Mitmenschen uns immer ein Rätsel
bleiben würden. Der einzige Weg zu ganzer Erkenntnis ist der
Akt der Liebe: Dieser Akt transzendiert alles Denken und alle
Worte. Es ist der kühne Sprung in das Erleben von Einheit.
Freilich ist das gedankliche Wissen, das heißt die
psychologische Erkenntnis, eine unentbehrliche Voraussetzung
für die volle Erkenntnis im Akt der Liebe. Ich muß den anderen
und mich selbst objektiv kennen, um sehen zu können, wie er
wirklich ist - oder besser gesagt, um die Illusionen, das irrational
entstellte Bild zu überwinden, das ich mir von ihm mache. Nur
wenn ich einen anderen Menschen objektiv sehe, kann ich ihn
im Akt der Liebe in seinem innersten Wesen erkennen. (Dies
spielt bei der Bewertung der Psychologie in unserer heutigen
westlichen Kultur eine wesentliche Rolle. Zwar spricht aus der
großen Popularität der Psychologie zweifellos ein Interesse am
Wissen um den Menschen, aber sie ist gleichzeitig ein Hinweis
auf den grundsätzlichen Mangel an Liebe in den heutigen
menschlichen Beziehungen. Das psychologische Erkennen wird
zu einem Ersatz für das volle Erkennen im Akt der Liebe, anstatt
nur ein Schritt zur Erkenntnis hin zu sein.)
Parallel zum Problem, den Menschen zu erkennen, gibt es das
religiöse Problem, Gott zu erkennen. In der herkömmlichen
westlichen Theologie wird versucht, Gott im Denken zu
erkennen und Aussagen über Gott zu machen. Es wird
angenommen, daß ich Gott durch Denken erkennen kann. Die
Mystik, welche, wie ich später noch zeigen werde, die letzte
Konsequenz des Monotheismus ist, gibt den Versuch auf, Gott
gedanklich erfassen zu können. Statt dessen versucht sie zum
Erlebnis der Einheit mit Gott zu gelangen, in der kein Platz
mehr ist für ein Wissen über Gott und wo auch kein Bedürfnis
mehr danach besteht.
-40-
Das Erlebnis der Vereinigung mit dem Menschen oder,
religiös ausgedrückt, mit Gott ist keineswegs irrational. Es ist
ganz im Gegenteil, wie Albert Schweitzer dargelegt hat, das
Ergebnis des Rationalismus in seiner kühnsten und radikalsten
Konsequenz. Es beruht auf unserem Wissen um die
grundsätzlichen und nicht zufälligen Grenzen unserer
Erkenntnis, auf unserem Wissen darum, daß wir das Geheimnis
des Menschen und des Universums nie »begreifen« werden, daß
wir es aber trotzdem im Akt der Liebe »erkennen« können. Die
Psychologie als Wissenschaft hat ihre Grenzen, und wie die
Mystik die logische Konsequenz der Theologie ist, so ist die
letzte Konsequenz der Psychologie die Liebe.
Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis
stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sie bilden ein
Syndrom von Einstellungen, die beim reifen Menschen zu
finden sind, das heißt bei einem Menschen, der seine eigenen
Kräfte produktiv entwickelt hat, der nur das haben will, was er
sich selbst erarbeitet hat, der seine narzißtischen Träume von
Allwissenheit und Allmacht aufgegeben und die Demut
erworben hat, die auf einer inneren Stärke beruht, wie sie nur
echtes produktives Tätigsein geben kann.
Bisher habe ich von der Liebe nur als von der Überwindung
des menschlichen Getrenntseins, als der Erfüllung der Sehnsucht
nach Einheit gesprochen. Aber über das universale existentielle
Bedürfnis nach Einheit hinaus gibt es noch ein spezifisch
biologisches Bedürfnis: das Verlangen nach einer Vereinigung
des männlichen und des weiblichen Pols. Dieser Gedanke der
Vereinigung der beiden Pole kommt am eindrucksvollsten in
dem Mythos zum Ausdruck, daß Mann und Frau ursprünglich
eins waren, daß sie auseinandergeteilt wurden und daß seitdem
jeder Mann seine verlorene weibliche Hälfte sucht, um sich aufs
neue mit ihr zu vereinigen. (Der gleiche Gedanke von der
ursprünglichen Einheit der Geschlechter ist auch in der
biblischen Geschichte enthalten, nach welcher Eva aus der
-41-
Rippe Adams geschaffen wurde, wenn auch in dieser von einem
patriarchalischen Geist erfüllten Geschichte die Frau als dem
Manne untergeordnet erscheint.) Die Bedeutung des Mythos ist
offensichtlich. Die sexuelle Polarisierung veranlaßt den
Menschen, eine Einheit spezieller Art zu suchen, nämlich die
mit dem anderen Geschlecht. Die Polarität zwischen dem
männlichen und dem weiblichen Prinzip besteht auch im
Inneren eines jeden Mannes und im Inneren einer jeden Frau.
Genauso wie im physiologischen Bereich Mann und Frau
jeweils auch Hormone des anderen Geschlechts haben, sind sie
auch im psychologischen Sinn bisexuell. Sie tragen beide das
Prinzip des Empfangens und des Eindringens, der Materie und
des Geistes in sich. Der Mann wie auch die Frau finden die
Einheit in sich selbst nur in Gestalt der Vereinigung ihrer
weiblichen und männlichen Polarität. Diese Polarität ist die
Grundlage jeder Kreativität.
Die männlichweibliche Polarität ist auch die Basis der
zwischenmenschlichen Kreativität. Biologisch wird dies darin
sichtbar, daß die Geburt eines Kindes auf der Vereinigung von
Samen und Eizelle beruht. Aber auch im rein seelischen Bereich
ist es nicht anders; in der Liebe zwischen Mann und Frau
werden beide wiedergeboren. (Die homosexuelle Abweichung
von der Norm entsteht dadurch, daß diese polarisierte
Vereinigung nicht zustande kommt und daß der Homosexuelle
hierdurch unter dem Schmerz der nicht aufgehobenen
Getrenntheit leidet, wobei es sich übrigens um ein Unvermögen
handelt, das er mit dem durchschnittlich heterosexuell
Veranlagten, der nicht lieben kann, teilt.)
Die gleiche Polarität des männlichen und weiblichen Prinzips
gibt es auch in der Natur, und zwar nicht nur so offensichtlich
wie bei Tieren und Pflanzen, sondern auch in der Polarität der
beiden fundamentalen Funktionen des Empfangens und des
Eindringens. Es ist die Polarität von Erde und Regen, von Fluß
und Meer, von Nacht und Tag, von Dunkelheit und Licht, von
-42-
Materie und Geist. Der moslemische Dichter und Mystiker
Rumi hat dies besonders schön ausgedrückt.
»Wahrlich nie sucht der Liebende, ohne von der Geliebten
gesucht zu werden.
Hat der Blitz der Liebe dieses Herz getroffen, so wisse, daß
auch jenes Herz voll Liebe ist.
Wächst die Liebe zu Gott in deinem Herzen, so wirst auch du
ohne Zweifel von Gott geliebt.
Kein Händeklatschen ertönt nur von einer Hand ohne die
andere.
Göttliche Weisheit und Gottes Ratschluß macht, daß wir
einander lieben.
Durch diese Vorbestimmung ist jeder Teil der Welt mit
seinem Gefährten gepaart.
Nach Ansicht der Weisen ist der Himmel der Mann und die
Erde die Frau: Die Erde zieht auf, was vom Himmel herabfallt.
Fehlt der Erde die Wärme, so schickt sie der Himmel; geht ihr
Frische und Nässe verloren, so versorgt sie der Himmel aufs
neue.
Der Himmel geht seinen Lauf wie der Gatte, der nach
Nahrung sucht für sein Weib; und die Erde widmet sich eifrig
häuslichen Pflichten: Sie hilft bei der Geburt und nährt, was sie
gebiert.
Siehe, auch Erde und Himmel sind mit Verstand begabt,
verrichten sie doch das Werk verständiger Wesen.
Fände der eine nicht Gefallen am andern, weshalb hingen sie
dann wie Liebende aneinander?
Wie sollten Blumen und Bäume blühen ohne die Erde? Was
würde ohne sie Wasser und Wärme des Himmels erzeugen?
-43-
So wie Gott in Mann und Frau das Verlangen gepflanzt hat,
auf daß die Welt erhalten bliebe durch ihre Vereinigung, so hat
Er auch jedem Teil der Welt das Verlangen nach einem anderen
Teil dieser Welt eingepflanzt.
Feinde sind Tag und Nacht von außen gesehen, doch dienen
sie beide demselben Zweck:
Beide lieben einander, um gemeinsam ihr Werk zu vollenden.
Ohne die Nacht würde des Menschen Natur nichts
empfangen, so daß der Tag nichts mehr zum Ausgeben hätte.«
(R. A. Nicholson, 1950, S. 122f.)
Das Problem der männlichweiblichen Polarität führt zu
weiteren Erörterungen über das Thema Liebe und Sexualität. Ich
erwähnte bereits, daß Freud sich irrte, als er in der Liebe
ausschließlich den Ausdruck oder die Sublimierung des
Sexualtriebs sah und nicht erkannte, daß das sexuelle Verlangen
nur ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Liebe und Einheit ist.
Aber Freuds Irrtum reicht noch tiefer. In Übereinstimmung mit
seinem physiologischen Materialismus sieht er im Sexualtrieb
das Resultat einer im Körper auf chemischem Weg erzeugten
Spannung, die schmerzhaft empfunden wird und daher nach
Entspannung sucht. Ziel des sexuellen Verlangens ist die
Beseitigung dieser quälenden Spannung; die sexuelle
Befriedigung liegt in dieser Spannungsbeseitigung. Diese
Ansicht ist insoweit richtig, als das sexuelle Verlangen sich in
ähnlicher Weise auswirkt wie Hunger und Durst, wenn dem
Organismus zuwenig Nahrung zugeführt wird. Der Sexualtrieb
ist nach dieser Auffassung eine Art Juckreiz, die sexuelle
Befriedigung ist die Beseitigung dieses Juckreizes. Bei einer
solchen Auffassung der Sexualität wäre die Masturbation
-44-
tatsächlich die ideale sexuelle Befriedigung. Was Freud
paradoxerweise dabei Übersicht, ist der psychologischbiologische
Aspekt der Sexualität, die männlichweibliche Polarität und
das Verlangen, diese Polarität dur ch die Vereinigung zu überbrücken.
Dieser merkwürdige Irrtum wurde vermutlich durch
Freuds extrem patriarchalische Einstellung begünstigt, die ihn
zu der Annahme verleitete, die Sexualität sei an und für sich
männlich, so daß er die weibliche Sexualität außer acht ließ. Er
brachte diesen Gedanken in seinen Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie (S. Freud, 1905 d, S. 120-122) zum Ausdruck, wo
er sagt, die Libido habe regelmäßig »einen männlichen
Charakter, ungeachtet der Tatsache, ob es sich um die Libido bei
einem Mann oder bei einer Frau handele. Der gleiche Gedanke
kommt auch in einer rationalisierten Form in Freuds Theorie
zum Ausdruck, daß nämlich der kleine Junge die Frau als
kastrierten Mann erlebe und daß die Frau selbst den Verlust des
männlichen Gliedes auf verschiedene Weise zu kompensieren
suche. Aber die Frau ist kein kastrierter Mann, und ihre
Sexualität ist spezifisch weiblich und nicht von »männlichem
Charakter«.
Die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern ist nur
teilweise durch das Bedürfnis nach Abfuhr der Spannung
motiviert; in der Hauptsache handelt es sich dabei um das
Bedürfnis nach Einheit mit dem anderen sexuellen Pol.
Tatsächlich äußert sich erotische Anziehung ja auch nicht nur in
der sexuellen Anziehung. Männlichkeit und Weiblichkeit zeigen
sich ebenso im Charakter wie in Sexualfunktionen. Man kann
den männlichen Charakter definieren, indem man ihm
Eigenschaften wie Eindringungsvermögen, Führungsbefähigung,
Aktivität, Disziplin und Abenteuerlust zuschreibt; den
weiblichen Charakter dagegen kennzeichnen Eigenschaften wie
produktive Aufnahmefähigkeit, Beschützenwollen, Realismus,
Geduld und Mütterlichkeit. (Dabei sollte man sich stets vor
Augen halten, daß in jedem Menschen stets beiderlei
-45-
Charaktereigenschaften miteinander verquickt sind, wobei die
zu »seinem« oder die zu »ihrem« Geschlecht gehörenden
jeweils überwiegen.) Wenn die männlichen Charakterzüge eines
Mannes dadurch, daß er emotional ein Kind geblieben ist, nur
schwach ausgebildet sind, kommt es sehr häufig vor, daß er
diesen Mangel dadurch zu kompensieren sucht, daß er in
sexueller Hinsicht ausschließlich eine männliche Rolle spielt.
Das Ergebnis ist dann ein Don Juan, der es nötig hat, seine
Manneskraft im Geschlechtsverkehr zu beweisen, weil er sich
seines männlichen Charakters nicht sicher ist. Ist die Lähmung
der Männlichkeit noch extremer, so wird der Sadismus (die
Anwendung von Gewalt) zum pervertierten Hauptersatz für die
Männlichkeit. Ist die weibliche Sexualität geschwächt oder
pervertiert, so verwandelt sie sich in Masochismus oder in
Besitzgier.
Man hat Freud wegen seiner Überbewertung der Sexualität
kritisiert. Bei dieser Kritik hat häufig auch der Wunsch eine
Rolle gespielt, ein Element aus seinem System zu beseitigen,
das ihm in konventionell eingestellten Kreisen Kritik und
Feindschaft eintrug. Freud spürte diese Motivation genau und
wehrte sich aus ebendiesem Grund gegen jeden Versuch, seine
Sexualtheorie zu ändern. Tatsächlich wirkte ja Freuds Theorie in
seiner Zeit herausfordernd und revolutionär. Aber was für die
Zeit um die Jahrhundertwende galt, hat fünfzig Jahre später
seine Gültigkeit verloren. Die sexuellen Gewohnheiten haben
sich so sehr geändert, daß Freuds Theorien für das Bürgertum
des Westens nicht mehr anstößig sind, und es zeugt von einem
weltfremden Radikalismus, wenn heute noch orthodoxe
Analytiker sich für besonders mutig und radikal halten, wenn sie
seine Sexualtheorie verteidigen. Tatsächlich ist ihre Art von
Psychoanalyse konformistisch, macht sie doch nicht einmal den
Versuch, psychologische Fragen anzuschneiden, die zu einer
Kritik der heutigen Gesellschaft führen würden.
Meine Kritik an Freuds Theorie gilt nicht seiner Über-
46-
betonung der Sexualität, sondern bezieht sich darauf, daß er
diese nicht tief genug verstanden hat. Er hat den ersten Schritt
zur Entdeckung der Bedeutung zwischenmenschlicher Leidenschaften
getan; in Übereinstimmung mit seinen philosophischen
Prämissen hat er sie psychologisch erklärt. In dem Maß, wie
sich die Psychoanalyse weiterentwickelt, erscheint es jedoch
notwendig und richtig, Freuds Auffassung dadurch zu
korrigieren und zu vertiefen, daß man seine Einsichten aus dem
physiologischen Bereich in den biologischen und existentiellen
Bereich hinübernimmt. (Auch hier hat Freud den ersten Schritt
in dieser Richtung später selbst getan, als er den Begriff des
Lebens- und Todestriebs entwickelte. Sein Verständnis des
Lebenstriebs [eros] als des Prinzips der Synthese und
Vereinigung liegt auf einer völlig anderen Ebene als sein
Libidobegriff. Aber wenn auch seine Theorie vom Lebens- und
Todestrieb von orthodoxen Analytikern akzeptiert wurde, so
kam es dennoch zu keiner grundsätzlichen Revision seiner
Auffassung von der Libido, besonders nicht in der klinischen
Arbeit.)