Selbstliebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Selbstliebe


Während kein Einwand dagegen erhoben wird, wenn man
seine Liebe den verschiedensten Objekten zuwendet, ist die
Meinung weit verbreitet, daß es zwar eine Tugend sei, andere zu
lieben, sich selbst zu lieben aber, das sei Sünde. Man nimmt an,
in dem Maß, wie man sich selbst liebe, liebe man andere nicht,
und Selbstliebe sei deshalb das gleiche wie Selbstsucht. Diese
Auffassung reicht im westlichen Denken weit zurück. Calvin
spricht von der Selbstliebe als der »schädlichsten Pestilenz« (J.
Calvin, 1955, S. 446). Freud spricht von der Selbstliebe zwar in
psychiatrischen Begriffen, doch bewertet er sie nicht anders als
Calvin. Für ihn ist Selbstliebe gleichbedeutend mit Narzißmus,
bei dem die Libido sich auf die eigene Person richtet. Narzißmus
ist die erste Stufe in der menschlichen Entwicklung, und wer im
späteren Leben auf diese Stufe zurückkehrt, ist unfähig zu
lieben; im Extremfall ist er geisteskrank. Freud nimmt an, die
Liebe sei eine Manifestation der Libido, und die Libido richte
sich entweder auf andere - als Liebe; oder sie richte sich auf uns
selbst - als Selbstliebe. Liebe und Selbstliebe schließen sich
dabei gegenseitig aus: Je mehr von der einen, um so weniger ist
von der anderen vorhanden. Ist aber die Selbstliebe etwas
2 In seiner Besprechung meines Buches The Sane Society hat Paul Tillich
(1955) vorgeschlagen, den mehrdeutigen Ausdruck »Selbstliebe« durch
»natürliche Selbstbestätigung« oder durch »paradoxe Selbstannahme« zu
ersetzen. Obwohl viel für seinen Vorschlag spricht, bin ich in diesem Fall
doch nicht seiner Meinung. Im Begriff »Selbstliebe« wird das in der
Selbstliebe enthaltene paradoxe Element deutlicher. Es ist darin zum
Ausdruck gebracht, daß die Liebe eine Einstellung ist, die gegenüber allen
ihren Objekten, einschließlich meiner selbst, die gleiche ist. Auch ist nicht zu
vergessen, daß der Begriff »Selbstliebe« in der hier gebrauchten Bedeutung
eine Geschichte hat. Die Bibel spricht von Selbstliebe, wenn es in dem
betreffenden Gebot heißt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«; und auch
Meister Eckhart spricht im gleichen Sinn von Selbstliebe.
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Schlechtes, so folgt daraus, daß Selbstlosigkeit eine Tugend ist.
Hier erheben sich folgende Fragen: Bestätigen psychologische
Beobachtungen die These, daß zwischen der Liebe zu sich selbst
und der Liebe zu anderen ein grundsätzlicher Widerspruch
besteht? Ist Liebe zu sich selbst das gleiche Phänomen wie
Selbstsucht, oder sind Selbstliebe und Selbstsucht Gegensätze?
Ferner: Ist die Selbstsucht des modernen Menschen tatsächlich
ein liebevolles Interesse an sich selbst ah einem Individuum mit
allen seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen
Möglichkeiten? Ist »er«, der moderne Mensch, nicht vielmehr
zu einem Anhängsel an seine sozioökonomische Rolle
geworden? Ist seine Selbstsucht wirklich dasselbe wie
Selbstliebe, oder ist die Selbstsucht nicht geradezu die Folge
davon, daß es ihm an Selbstliebe fehlt?
Bevor wir den psychologischen Aspekt der Selbstsucht und
der Selbstliebe nun diskutieren, ist zu unterstreichen, daß die
Auffassung, die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu
sich selbst schlössen sich gegenseitig aus, ein logischer
Trugschluß ist. Wenn es eine Tugend ist, meinen Nächsten als
ein menschliches Wesen zu lieben, dann muß es doch auch eine
Tugend - und kein Laster - sein, wenn ich mich selbst liebe, da
ja auch ich ein menschliches Wesen bin. Es gibt keinen Begriff
vom Menschen, in den ich nicht eingeschlossen wäre. Eine
These, die das behauptet, würde sich damit als in sich
widersprüchlich ausweisen. Die im biblischen Gebot: »Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst« ausgedrückte Idee impliziert,
daß die Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit,
die Liebe zum eigenen Selbst und das Verständnis dafür nicht
von unserer Achtung vor einem anderen Menschen, von unserer
Liebe zu ihm und unserem Verständnis für ihn zu trennen sind.
Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen
anderen Wesen verbunden.
Damit sind wir bei den grundlegenden psychologischen
Prämissen angekommen, auf denen sich unsere Argumentation
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aufbaut. Es handelt sich dabei ganz allgemein um folgende
Voraussetzungen: Nicht nur andere, auch wir selbst sind
»Objekte« unserer Gefühle und Einstellungen; dabei stehen
unsere Einstellungen zu anderen und die zu uns selbst
keineswegs miteinander im Widerspruch, sondern hängen eng
miteinander zusammen. In bezug auf das hier erörterte Problem
bedeutet dies: Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst
stellen keine Alternative dar; ganz im Gegenteil wird man bei
allen, die fähig sind, andere zu lieben, beobachten können, daß
sie auch sich selbst lieben. Liebe ist grundsätzlich unteilbar;
man kann die Liebe zu anderen Liebes-››Objekten« nicht von
der Liebe zum eigenen Selbst trennen. Echte Liebe ist Ausdruck
inneren Produktivseins und impliziert Fürsorge, Achtung,
Verantwortungsgefühl und »Erkenntnis«. Sie ist kein »Affekt«
in dem Sinn, daß ein anderer auf uns einwirkt, sondern sie ist ein
tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten
Person zu fördern. Dieses Streben aber wurzelt in unserer
eigenen Liebesfähigkeit.
Einen anderen lieben bedeutet eine Aktualisierung und ein
Konzentrieren der Liebesfähigkeit. Die grundsätzliche in der
Liebe enthaltene Bejahung richtet sich auf die geliebte Person
als die Verkörperung von Eigenschaften, die zum Wesen des
Menschen gehören. Einen Menschen lieben heißt alle Menschen
als solche lieben. Jene »Arbeitsteilung«, von der William James
spricht, bei der man die eigene Familie liebt, aber kein Gefühl
für den »Fremden« hat, ist ein Zeichen dafür, daß man im
Grunde zur Liebe nicht fähig ist. Liebe zum Menschen ist nicht,
wie häufig angenommen, eine Abstraktion, die auf die Liebe zu
einer bestimmten Person folgt, sie geht ihr vielmehr voraus.
Genetisch gesehen, wird die Liebe zum Menschen überhaupt
dadurch erworben, daß man bestimmte Individuen liebt.
Hieraus folgt, daß mein eigenes Selbst ebensosehr Objekt
meiner Liebe sein muß wie ein anderer Mensch. Die Bejahung
des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der
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eigenen Freiheit ist in der Liebesfähigkeit eines jeden
verwurzelt, das heißt in seiner Fürsorge, seiner Achtung, seinem
Verantwortungsgefühl und seiner »Erkenntnis«. Wenn ein
Mensch fähig ist, produktiv zu lieben, dann liebt er auch sich
selbst; wenn er nur andere lieben kann, dann kann er überhaupt
nicht lieben.
Wenn wir annehmen, daß die Liebe zu uns selbst und zu
anderen grundsätzlich miteinander zusammenhängen, wie ist
dann die Selbstsucht zu erklären, die doch offensichtlich jedes
echte Interesse an anderen ausschließt? Der Selbstsüchtige
interessiert sich nur für sich selbst, er will alles für sich, er hat
keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die
Außenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich
herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn
nicht, und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität.
Er kann nur sich selbst sehen; einen jeden und alles beurteilt er
nur nach dem Nutzen, den er davon hat. Er ist grundsätzlich
unfähig zu lieben. Beweist das nicht, daß das Interesse an
anderen und das Interesse an sich selbst unvereinbar sind? Das
wäre so, wenn Selbstsucht dasselbe wäre wie Selbstliebe. Aber
diese Annahme ist eben der Irrtum, der bei unserem Problem
schon zu so vielen Fehlschlüssen geführt hat. Selbstsucht und
Selbstliebe sind keineswegs identisch, sondern in Wirklichkeit
Gegensätze. Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr,
sondern zuwenig; tatsächlich haßt er sich. Dieser Mangel an
Freude über sich selbst und an liebevollem Interesse an der
eigenen Person, der nichts anderes ist als Ausdruck einer
mangelnden Produktivität, gibt ihm ein Gefühl der Leere und
Enttäuschung. Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig darauf
bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu
entreißen, die er sich selbst verbaut hat. Er scheint zu sehr um
sich besorgt, aber in Wirklichkeit unternimmt er nur den
vergeblichen Versuch, zu vertuschen und zu kompensieren, daß
es ihm nicht gelingt, sein wahres Selbst zu lieben. Freud steht
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auf dem Standpunkt, der Selbstsüchtige sei narzißtisch und habe
seine Liebe gleichsam von anderen abgezogen und auf die
eigene Person übertragen. Es stimmt zwar, daß selbstsüchtige
Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch
nicht fähig, sich selbst zu lieben.
Die Selbstsucht ist leichter zu verstehen, wenn man sie mit
dem besitzgierigen Interesse an anderen vergleicht, wie wir es
zum Beispiel bei einer übertrieben besorgten Mutter finden.
Während sie bewußt glaubt, ihr Kind besonders zu lieben, hegt
sie in Wirklichkeit eine tief verdrängte Feindseligkeit gegen das
Objekt ihrer Fürsorge. Sie ist übertrieben besorgt, nicht weil sie
ihr Kind zu sehr liebt, sondern weil sie irgendwie kompensieren
muß, daß sie überhaupt unfähig ist zu lieben.
Diese Theorie des Wesens der Selbstsucht wird durch
psychoanalytische Erfahrungen mit der neurotischen
»Selbstlosigkeit« bestätigt, die man bei nicht wenigen Menschen
beobachten kann; diese leiden gewöhnlich an Symptomen, die
damit zusammenhängen, etwa an Depressionen, Müdigkeit, an
einer Unfähigkeit zu arbeiten, am Scheitern von Liebesbeziehungen
usw. Nicht nur wird Selbstlosigkeit nicht als ein
»Symptom« empfunden; im Gegenteil: Sie ist oft der einzige
lobenswerte Charakterzug, auf den solche Menschen stolz sind.
Der solcherart Selbstlose »will nichts für sich selbst«; er »lebt
nur für andere«; er ist stolz darauf, daß er sich selbst nicht
wichtig nimmt. Er wundert sich darüber, daß er sich trotz seiner
Selbstlosigkeit unglücklich fühlt und daß seine Beziehungen zu
denen, die ihm am nächsten stehen, unbefriedigend sind. Bei der
Analyse stellt sich dann heraus, daß seine Selbstlosigkeit sehr
wohl etwas mit seinen anderen Symptomen zu tun hat und daß
sie selbst eines dieser Symptome und sogar oft das wichtigste
ist; der Betreffende ist nämlich überhaupt in seiner Fähigkeit, zu
lieben oder sich zu freuen, gelähmt; daß er voller Feindschaft
gegen das Leben ist und daß sich hinter der Fassade seiner
Selbstlosigkeit eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive
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Ichbezogenheit verbirgt. Man kann einen solchen Menschen nur
heilen, wenn man auch seine Selbstlosigkeit als eines seiner
Symptome interpretiert, um auf diese Weise seinen Mangel an
Produktivität, der die Ursache sowohl seiner Selbstlosigkeit als
auch seiner anderen Störungen ist, korrigieren zu können.
Das Wesen der Selbstlosigkeit kommt besonders deutlich in
ihrer Wirkung auf andere zum Ausdruck und in unserer Kultur
speziell in der Wirkung, die eine solche »selbstlose« Mutter auf
ihre Kinder hat. Sie meint, durch ihre Selbstlosigkeit würden
ihre Kinder erfahren, was es heißt, geliebt zu werden, und sie
würden ihrerseits daraus lernen, was lieben bedeutet. Die
Wirkung ihrer Selbstlosigkeit entspricht jedoch keineswegs
ihren Erwartungen. Die Kinder machen nicht den Eindruck von
glücklichen Menschen, die davon überzeugt sind, geliebt zu
werden. Sie sind ängstlich, nervös und haben ständig Angst, die
Mutter könnte mit ihnen nicht zufrieden sein und sie könnten
ihre Erwartungen enttäuschen. Meist werden sie von der
versteckten Lebensfeindschaft ihrer Mutter angesteckt, die sie
mehr spüren als klar erkennen, und schließlich werden auch sie
ganz davon durchdrungen. Alles in allem wirkt eine derart
selbstlose Mutter auf ihre Kinder kaum anders als eine
selbstsüchtige, ja, die Wirkung ist häufig noch schlimmer, weil
ihre Selbstlosigkeit die Kinder daran hindert, an ihr Kritik zu
üben. Sie fühlen sich verpflichtet, sie nicht zu enttäuschen, so
wird ihnen unter der Maske der Tugend eine Abscheu vor dem
Leben beigebracht. Hat man dagegen Gelegenheit, die Wirkung
zu studieren, die eine Mutter mit einer echten Selbstliebe auf ihr
Kind ausübt, dann wird man erkennen, daß es nichts gibt, was
dem Kind besser die Erfahrung vermitteln könnte, was Liebe,
Freude und Glück bedeuten, als von einer Mutter geliebt zu
werden, die sich selber liebt.
Man kann diese Gedanken über die Selbstliebe nicht besser
zusammenfassen als mit einem Zitat Meister Eckharts: »Hast du
dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst.
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Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich
selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft liebgewonnen - wenn
du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem
Menschen alle Menschen: und dieser Mensch ist Gott und
Mensch. So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich
selbst liebhat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit
dem ist es gar recht bestellt« (J. Quint, 1977, S.