Liebe zu Gott
Wir haben bereits festgestellt, daß unser Bedürfnis nach Liebe auf unsere Erfahrung des Getrenntseins und auf das daraus resultierende Verlangen zurückzuführen ist, die aus der Getrenntheit entspringende Angst durch die Erfahrung von Einheit zu überwinden. Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse Form der Liebe ist psychologisch gesehen nichts anderes. Sie entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und Einheit zu erlangen. Tatsächlich hat ja die Liebe zu Gott ebenso viele verschiedene Qualitäten und Aspekte wie die Liebe zum Menschen und wir finden bei ihr auch im allgemeinen ebenso viele Unterschiede. In allen theistischen Religionen - ob sie nun polytheistisch oder monotheistisch sind - verkörpert Gott den höchsten Wert, das erstrebenswerteste Gut. Daher hängt die jeweilige Bedeutung Gottes davon ab, was dem Betreffenden als wünschenswertestes Gut erscheint. Um die Gottesvorstellung eines gläubigen Menschen zu verstehen, sollte man daher mit einer Analyse seiner Charakterstruktur beginnen. Die Entwicklung der menschlichen Rasse kann man nach allem, was wir darüber wissen, als die Loslösung des Menschen von der Natur, von der Mutter, von der Bindung an Blut und Boden charakterisieren. Am Anfang seiner Geschichte sieht sich der Mensch zwar aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur ausgestoßen, doch hält er noch weiter an den ursprünglichen Bindungen fest. Er findet seine Sicherheit, indem er wieder zurückgeht oder diese ursprünglichen Bindungen beibehält. Noch immer identifiziert er sich mit der Welt der Tiere und Bäume, und er versucht dadurch zur Einheit zu gelangen, daß er eins bleibt mit der Welt der Natur. Von dieser Entwicklungsstufe zeugen viele primitive Religionen. Da wird -78- ein Tier zu einem Totem, man trägt bei besonders feierlichen religiösen Handlungen oder auch im Krieg Tiermasken; man verehrt ein Tier als Gott. Auf einer späteren Entwicklungsstufe, wenn der Mensch sich handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten erworben hat und nicht mehr ausschließlich auf die Gaben der Natur - die Früchte, die er findet, und die Tiere, die er jagt - angewiesen ist, verwandelt er das Erzeugnis seiner eigenen Hände in einen Gott. Es ist dies das Stadium der Verehrung von Götzen aus Lehm, Silber oder Gold. Der Mensch projiziert dabei seine eigenen Kräfte und Fertigkeiten in die Dinge, die er macht, und betet so auf entfremdete Weise sein eigenes Können, seinen eigenen Besitz an. Auf einer noch späteren Stufe verleiht der Mensch seinen Göttern menschliche Gestalt. Offenbar ist er dazu erst imstande, nachdem er sich seiner selbst stärker bewußt geworden ist und den Menschen als das höchste und ehrwürdigste »Ding« auf der Welt entdeckt hat. In dieser Phase der anthropomorphen Gottesverehrung verläuft die Entwicklung in zwei Dimensionen. Im einen Fall ist die weibliche oder die männliche Natur der Götter ausschlaggebend; im anderen Fall hängt die Art der Götter und die Art, wie sie geliebt und verehrt werden, vom Grad der Reife ab, den die Menschen erreicht haben. Beschäftigen wir uns zunächst mit der Entwicklung von matrizentrischen zu patrizentrischen Religionen. Entsprechend den großen, entscheidenden Entdeckungen von Bachofen und Morgan um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und trotz des Widerspruchs, auf den sie mit ihren Entdeckungen in den meisten akademischen Kreisen gestoßen sind, besteht kaum ein Zweifel, daß zum mindesten in vielen Kulturen eine Phase der matriarcha lischen Religion der patriarchalischen vorangegangen ist. In der matriarchalischen Phase ist das höchste Wesen die Mutter. Sie ist die Göttin, und sie ist auch in Familie und Gesellschaft die Autoritätsperson. Um das Wesen der matriarchalischen Religion zu verstehen, brauchen wir uns nur -79- daran zu erinnern, was wir über das Wesen der mütterlichen Liebe gesagt haben. Die Mutterliebe stellt keine Bedingungen, sie ist allbeschützend und allumfassend. Da sie keine Bedingungen stellt, entzieht sie sich jeder Kontrolle, und man kann sie sich nicht erwerben. Ihr Besitz ist Seligkeit; ihr Fehlen führt zu einem Gefühl der Verlorenheit und zu äußerster Verzweiflung. Da Mütter ihre Kinder lieben, weil sie ihre Kinder sind und nicht weil sie »brav« und gehorsam sind oder weil sie tun, was sie von ihnen wünschen oder verlangen, beruht die Mutterliebe auf Gleichheit. Alle Menschen sind gleich, weil sie alle Kinder einer Mutter sind, weil sie alle Kinder der Mutter Erde sind. Das nächste Stadium der menschlichen Entwicklung, das einzige, von dem wir genaue Kenntnis haben und bei dem wir nicht auf Rückschlüsse und Rekonstruktionen angewiesen sind, ist die patriarchalische Phase. In dieser Phase wird die Mutter von ihrer alles beherrschenden Stellung entthront, und der Vater wird in der Religion wie auch in der Gesellschaft zum höchsten Wesen. Das Wesen der väterlichen Liebe besteht darin, daß er Forderungen stellt, daß er Gesetze aufstellt und daß seine Liebe zu seinem Sohn davon abhängt, ob dieser seinen Befehlen gehorcht. Er liebt denjenigen Sohn am meisten, der ihm am ähnlichsten ist, der ihm am meisten gehorcht und sich am besten zu seinem Nachfolger als Erbe seines Besitzes eignet. (Die Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft geht Hand in Hand mit der Entwicklung des Privateigentums.) Die Folge ist, daß die patriarchalische Gesellschaft hierarchisch gegliedert ist; die Gleichheit der Brüder muß dem Wettbewerb und Wettstreit weichen. Ob wir an die indische, die ägyptische oder griechische Kultur oder an die jüdischchristliche oder islamische Religion denken - immer stehen wir inmitten einer patriarchalischen Welt mit ihren männlichen Göttern, über die ein Hauptgott regiert, oder wo alle Götter außer dem Einen, dem Gott abgeschafft wurden. Da jedoch das Verlangen nach -80- der Liebe einer Mutter aus den Herzen der Menschen nicht auszurotten ist, ist es nicht verwunderlich, daß die Figur der liebenden Mutter aus dem Pantheon nie ganz vertrieben wurde. Im Judentum wurden, besonders in den verschiedenen mystischen Strömungen, die mütterlichen Aspekte Gottes wieder aufgegriffen. In der katholischen Religion symbolisieren die Kirche und die Jungfrau Maria die Mutter. Selbst im Protestantismus ist die Mutterfigur nicht ganz ausgemerzt, wenn sie auch im verborgenen bleibt. Luthers Hauptthese lautete, daß sich der Mensch Gottes Liebe nicht durch seine eigenen guten Werke verdienen kann. Gottes Liebe ist Gnade, der gläubige Mensch sollte auf diese Gnade vertrauen und sich klein und hilfsbedürftig machen. Gute Werke können Gott nicht beeinflussen; sie können ihn nicht veranlassen, uns zu lieben, wie das die katholische Kirche lehrt. Wir erkennen hier, daß die katholische Lehre von den guten Werken in das patriarchalische Bild hineingehört. Ich kann mir die Liebe des Vaters dadurch erwerben, daß ich ihm gehorche und seine Gebote erfülle. Dagegen enthält die lutherische Lehre trotz ihres manifesten patriarchalischen Charakters ein verborgenes matriarchalisches Element. Die Liebe der Mutter kann man sich nicht erwerben; man besitzt sie, oder man besitzt sie nicht. Alles, was man tun kann, ist, sich in ein hilfloses, machtloses Kind zu verwandeln und Vertrauen zu haben. Wie der Psalmist sagt: »Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter« (Ps 22,10). Aber es ist eine Besonderheit Luthers, daß bei ihm die Mutterfigur aus dem manifesten Bild seines Glaubens herausgenommen und durch die Vaterfigur ersetzt ist. Anstelle der Gewißheit, von der Mutter geliebt zu werden, ist ein intensiver Zweifel, die Hoffnung, entgegen aller Hoffnung von dem Vater bedingungslos geliebt zu werden, das hervorstechendste Merkmal seines Glaubens. Ich mußte auf diesen Unterschied zwischen den matriarchalischen und den patriarchalischen Elementen in der Religion eingehen, um zu -81- zeigen, daß der Charakter der Liebe zu Gott von dem jeweiligen Gewicht der matriarchalischen und der patriarchalischen Aspekte der Religion abhängt. Der patriarchalische Aspekt veranlaßt mich, Gott wie einen Vater zu lieben; ich nehme dann an, daß er gerecht und streng ist, daß er belohnt und bestraft und daß er mich schließlich als seinen Lieblingssohn auserwählen wird, so wie Gott Abraham und Israel auserwählte, wie Isaak Jakob und wie Gott sein Lieblingsvolk auserwählte. Der matriarchalische Aspekt der Religion erlaubt, daß ich Gott als eine allumfassende Mutter liebe. Ich vertraue darauf, daß sie mich lieben wird, ganz gleich, ob ich arm und hilflos bin und ob ich gesündigt habe, und daß sie mir keine anderen Kinder vorziehen wird. Was auch immer mit mir geschieht, sie wird mir zu Hilfe kommen; sie wird mich retten und mir vergeben. Es erübrigt sich zu sagen, daß meine Liebe zu Gott und Gottes Liebe zu mir nicht voneinander zu trennen sind. Wenn Gott ein Vater ist liebt er mich wie einen Sohn, und ich liebe ihn wie einen Vater. Wenn Gott eine Mutter ist, so sind ihre und meine Liebe hierdurch bestimmt. Der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Aspekt der Liebe zu Gott ist jedoch nur ein Faktor bei der Wesensbestimmung dieser Liebe. Der andere Faktor ist der Reifegrad des Individuums, von dem auch der Grad der Reife seiner Gottesvorstellung und seiner Gottesliebe abhängt. Da sich die menschliche Rasse von einer Gesellschaftsstruktur und einer Religion, in deren Mittelpunkt die Mutter stand, zu einer solchen entwickelte, in deren Zentrum der Vater steht, können wir die Entwicklung einer reifer werdenden Liebe in erster Linie an der Entwicklung der partriarchalischen Religion verfolgen. (Das gilt besonders für die monotheistischen Religionen des Westens. In den indischen Religionen haben die Mutterfiguren ihren Einfluß größtenteils behalten, wie zum Beispiel die Göttin Kali. Im Buddhismus und im Taoismus war die Vorstellung von einem Gott - oder einer Göttin - ohne -82- wesentliche Bedeutung, soweit sie nicht überhaupt völlig eliminiert wurde.) Zu Beginn der Entwicklung finden wir einen despotischen, eifersüchtigen Gott, der den Menschen, den er schuf, als seinen Besitz ansieht und mit ihm machen kann, was er will. Es ist dies die Phase der Religion, in der Gott den Menschen aus dem Paradies vertreibt, damit er nicht vom Baum der Erkenntnis ißt und wie Gott selbst wird; es ist die Phase, in der Gott beschließt, die menschliche Rasse durch die Sintflut zu vernichten, weil keiner, der ihr angehört, ihm ge fällt, außer seinem Lieblingssohn Noah; es ist die Phase, in der Gott von Abraham verlangt, seinen einzigen geliebten Sohn Isaak zu töten, um seine Liebe zu Gott durch einen Akt äußersten Gehorsams unter Beweis zu stellen. Aber gleichzeitig beginnt eine neue Phase; Gott schließt mit Noah einen Bund, in dem er verspricht, nie wieder die menschliche Rasse zu vernichten, einen Bund, an den er selbst gebunden ist. Er ist nicht nur durch sein Versprechen gebunden, sondern auch durch sein eigenes Prinzip der Gerechtigkeit, aufgrund dessen er Abrahams Forderung nachgeben muß, Sodom zu verschonen, sofern sich wenigstens zehn Gerechte darin fanden. Aber die Entwicklung geht noch weiter, und Gott verwandelt sich nicht nur aus der Figur eines despotischen Stammeshäuptlings in einen liebenden Vater, in einen Vater, der selbst an die von ihm geforderten Grundsätze gebunden ist, sie verläuft in der Richtung, daß Gott sich aus einer Vaterfigur in das Symbol seiner Prinzipien: Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe verwandelt. Gott ist Wahrheit, Gott ist Gerechtigkeit. Im Verlauf dieser Entwicklung hört Gott auf, eine Person zu sein; er wird zum Symbol für das Prinzip der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, zum Symbol für die Vision einer Blume, die aus dem geistigen Samen im Menschen wächst. Gott kann keinen Namen haben. Ein Name bezeichnet immer ein Ding oder eine Person, etwas Bestimmtes. Wie kann Gott einen Namen haben, wenn er weder eine Person noch ein Ding ist? -83- Das deutlichste Beispiel für diesen Wandel ist die biblische Geschichte, in der sich Gott Moses offenbart. Gott macht Moses ein Zugeständnis, als dieser sagt, die Hebräer würden ihm nicht glauben, daß Gott ihn schickt, falls er ihnen nicht Gottes Namen nennen könne. (Wie könnten auch Götzenanbeter einen namenlosen Gott begreifen, da es ja gerade das Wesen eines Götzen ausmacht, daß er einen Namen hat.) Gott macht Moses ein Zugeständnis. Er sagt ihm, sein Name sei »Ich bin der ›Ichbinda‹« (Ex 3,14). Mit diesem Namen »Ichbinda« sagt er, daß er nicht bestimmbar ist, keine Person und kein »Seiendes«. Die treffendste Übersetzung seiner Namensangabe würde wohl sein: »Mein Name ist Namenlos«. Das Verbot, sich irgendein Bild von Gott zu machen, seinen Namen unnütz auszusprechen und schließlich seinen Namen überhaupt auszusprechen, zielt ebenfalls darauf ab, den Menschen von der Vorstellung freizumachen, daß Gott ein Vater, daß er eine Person sei. In der späteren theologischen Entwicklung wird dieser Gedanke dahingehend weitergeführt, daß man Gott überhaupt keine positiven Eigenschaften zuschreiben soll. Sagt man, Gott sei weise, stark und gut, so setzt man voraus, daß er eine Person ist; man kann über Gott nur das aussagen, was er nicht ist; man kann lediglich seine negativen Attribute feststellen: daß er nicht endlich, nicht ohne Liebe und nicht ungerecht ist. Je mehr ich darüber weiß, was Gott nicht ist, um so mehr weiß ich von ihm. (Vgl. Maimonides' Auffassung von den negativen Attributen, M. Maimonides, 1972.) Wenn man die sich entfaltende Idee des Monotheismus weiterverfolgt, so kann man nur zu dem Schluß kommen, Gottes Namen überhaupt nicht mehr zu erwähnen und überhaupt nicht mehr über Gott zu sprechen. Dann wird Gott zu dem, was er potentiell in der monotheistischen Theologie ist, das namenlose Eine, ein nicht in Worte zu fassendes Gestammel, das sich auf die der Erscheinungswelt zugrundeliegende Einheit, auf den Grund allen Daseins bezieht. Gott wird Wahrheit, Liebe, -84- Gerechtigkeit. Gott, das bin ich, insofern ich menschlich bin. Natürlich bewirkt diese Entwicklung vom anthropomorphen zu einem rein monotheistischen Prinzip große Unterschiede in der Art der Gottesliebe. Den Gott Abrahams kann man wie einen Vater lieben oder fürchten, wobei manchmal seine Vergebung und manchmal sein Zorn dominiert. Insofern Gott Vater ist, bin ich das Kind. Ich habe mich noch nicht ganz von dem autistischen Verlangen nach Allwissenheit und Allmacht freigemacht. Ich habe noch nicht die Objektivität erlangt, mir meine Grenzen als menschliches Wesen, meine Unwissenheit, meine Hilflosigkeit klarzumachen. Wie ein Kind mache ich noch immer den Anspruch geltend, daß ein Vater dasein muß, der mir zu Hilfe kommt, der auf mich achtgibt und der mich bestraft, ein Vater, der mich liebt, wenn ich ihm gehorche, der sich geschmeichelt fühlt, wenn ich ihn lobe, und der zornig wird, wenn ich ihm nicht gehorche. Ganz offensichtlich haben die meisten Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung dieses infantile Stadium noch nicht überwunden, so daß für die meisten der Glaube an Gott gleichbedeutend ist mit dem Glauben an einen helfenden Vater - eine kindliche Illusion. Wenn auch einige der großen Lehrer der Menschheit und eine Minderheit unter den Menschen diese Religionsauffassung überwunden haben, so ist sie doch noch immer die dominierende Form von Religion. Soweit dies zutrifft, hatte Freud mit seiner Kritik an der Gottesidee völlig recht. Sein Irrtum lag jedoch darin, daß er den anderen Aspekt der monotheistischen Religion, nämlich ihren eigentlichen Kern, übersah, welcher in seiner letzten Konsequenz zur Negation der Gottesvorstellung führt. Wenn ein wahrhaft religiöser Mensch sich dem Wesen der monotheistischen Idee entsprechend verhält, dann betet er nicht um etwas, dann erwartet er nichts von Gott; er liebt Gott nicht so, wie ein Kind seinen Vater oder seine Mutter liebt; er hat sich zu der Demut durchgerungen, daß er seine Grenzen fühlt und weiß, -85- daß er über Gott nichts wissen kann. Gott wird für ihn zu dem Symbol, in dem der Mensch auf einer früheren Stufe seiner Evolution alles das zum Ausdruck brachte, was das Ziel seines Strebens war: den Bereich der geistigen Welt, Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch vertraut auf die Prinzipien, die »Gott« repräsentieren; er denkt die Wahrheit, er lebt die Liebe und Gerechtigkeit, und er hält sein Leben nur soweit für wertvoll, als es ihm die Chance gibt, zu einer immer reicheren Entfaltung seiner menschlichen Kräfte zu gelangen - als der einzigen Realität, auf die es ankommt, als des einzigen, was ihn »unbedingt angeht«. Schließlich spric ht er dann nicht mehr über Gott und erwähnt nicht einmal mehr seinen Namen. Wenn er sich überhaupt dieser Bezeichnung bedient, dann heißt Gott lieben für ihn soviel wie sich danach sehnen, die volle Liebesfähigkeit zu erlangen und das in sich zu verwirklichen, was »Gott« in einem selbst bedeutet. Von diesem Standpunkt aus ist die Negation aller »Theologie«, alles Wissens über Gott, die logische Konsequenz monotheistischen Denkens. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen einer so radikalen nichttheologischen Auffassung und einem nichttheistischen System, wie wir es zum Beispiel im frühen Buddhismus oder im Taoismus finden. Alle theistischen Systeme, selbst die nichttheologischen, mystischen Systeme, postulieren einen spirituellen, den Menschen transzendierenden, jenseitigen Bereich, der den spirituellen Kräften des Menschen und seinem Verlangen nach Erlösung und nach einem inneren Neugeborenwerden Bedeutung und Geltung verleiht. In einem nichttheistischen System gibt es einen solchen spirituellen, jenseits des Menschen existierenden oder ihn transzendierenden Bereich nicht. Der Bereich der Liebe, Vernunft und Gerechtigkeit existiert als Realität nur deshalb und insofern, als der Mensch es vermochte, während des gesamten Evolutionsprozesses diese Kräfte in sich zu entwickeln. Nach dieser Auffassung besitzt das Leben keinen -86- Sinn außer dem, den der Mensch ihm gibt; die Menschen sind völlig allein und können ihre Einsamkeit nur überwinden, indem sie einander helfen. Im Zusammenhang mit der Liebe zu Gott möchte ich klarstellen, daß meine eigene Auffassung keine theistische ist. Ich halte die Gottesvorstellung für eine historisch bedingte und bin der Ansicht, daß der Mensch in einer bestimmten historischen Periode die Erfahrung der eigenen höheren Kräfte, seine Sehns ucht nach Wahrheit und Einheit darin zum Ausdruck gebracht hat. Aber ich meine andererseits, daß die aus einem strengen Monotheismus zu ziehenden Konsequenzen und die, welche sich aus einem nichttheistischen, »unbedingten Interesse« an der spirituellen Wirklichkeit ergeben, zwar verschieden sind, aber sich deshalb nicht unbedingt gegenseitig bekämpfen müssen. Hier zeigt sich jedoch das Problem der Gottesliebe noch in einer anderen Dimension, die wir diskutieren müssen, um die ganze Komplexität des Problems zu erfassen. Ich meine den grundlegenden Unterschied zwischen der religiösen Einstellung des Ostens (Chinas und Indiens) und der des Westens. Dieser Unterschied läßt sich am Verständnis von Logik erläutern. Seit Aristoteles hat sich die westliche Welt an die logischen Prinzipien der aristotelischen Philosophie gehalten. Diese Logik gründet sich auf den Satz von der Identität (A ist gleich A), auf den Satz vom Widerspruch (A ist nicht gleich Nicht-A) sowie auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A kann nicht A und gleichzeitig Nicht-A sein, genausowenig wie es gleichzeitig weder A noch Nicht-A sein kann). Aristoteles erklärt seine Auffassung sehr klar in dem Satz, »daß ein und dasselbe demselben nicht zugleich zugesprochen und abgesprochen werden könne... Dies ist die sicherste Grundlage...« (Metaphysik, 1005 b). Dieses Axiom der aristotelischen Logik hat unsere Denkgewohnheiten so tief beeinflußt, daß wir es als natürlich und selbstverständlich empfinden, während uns die Behauptung, X sei zugleich A und -87- Nicht-A, unsinnig vorkommt. (Natürlich bezieht sich diese Behauptung auf den Faktor X zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht auf X zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt oder auf einen bestimmten Aspekt von X im Gegensatz zu einem anderen Aspekt.) Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht das, was man als paradoxe Logik bezeichnen könnte. Dabei wird angenommen, daß A und Nicht-A sich als Prädikat von X nicht ausschließen. Die paradoxe Logik dominierte im chinesischen und indischen Denken und in der Philosophie des Heraklit. Später tauchte sie unter der Bezeichnung Dialektik in der Philosophie von Hegel und Marx wieder auf. Das allgemeine Prinzip der paradoxen Logik hat Laotse sehr klar zum Ausdruck gebracht: »Wirklich wahre Worte sind paradox.« (Laotse, Taoteking, Spruch 78). Tschuangtse sagt: »Das, was eins ist, ist eins. Das, was nichteins ist, ist auch eins.« Diese Formulierungen der paradoxen Logik sind positiv: Es ist, und es ist nicht. Eine andere Formulierung ist negativ: Es ist weder dies noch das. Positive Formulierungen des Gedankens finden wir im taoistischen Denken, bei Heraklit und später wieder in Hegels Dialektik; negative Formulierungen sind in der indischen Philosophie häufig anzutreffen. Es ginge über den Rahmen dieses Buches, den Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik ausführlicher darzulegen. Dennoch möchte ich zur Verdeutlichung des Prinzips einige Beispiele anfuhren. Im westlichen Denken kommt die paradoxe Logik zuerst in der Philosophie Heraklits zum Ausdruck. Dieser nimmt an, daß der Konflikt zwischen Gegensätzen die Grundlage jeder Existenz ist. »Sie begreifen nicht«, sagt Heraklit, »daß es (das All-Eine), auseinanderstrebend, mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier« (Heraklit, 1953, S. 134). Oder noch deutlicher: »Wir steigen in denselben Fluß, und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht« (a.a.O., S. 132). Oder: »Ein und dasselbe offenbart sich in den -88- Dingen als Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes« (a.a.O., S. 133). Laotse drückt das gleiche in poetischerer Form in seiner Philosophie aus. Ein charakteristisches Beispiel für das taoistische Denken ist folgender Ausspruch (Spruch 26): Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund; Das Stille ist des Ungestümen Herr. Oder (Spruch 37): Der Weg ist ewig ohne Tun; Aber nichts, was ungetan bliebe. Oder (Spruch 70): Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen und sehr leicht auszuführen. Doch im ganzen Reich vermag niemand, sie zu verstehen, Vermag niemand, sie auszuführen. Genau wie im indischen und im sokratischen Denken ist auch im taoistischen die höchste Stufe, zu der das Denken führen kann, das Wissen, daß wir nichts wissen (Spruch 71): Um sein Nichtwissen wissen ist das Höchste. Um sein Wissen nicht wissen ist krankhaft. Für diese Philosophie ist es nur konsequent, wenn der höchste Gott keinen Namen hat. Die letzte Realität, das letzte Eine, kann nicht in Worte gefaßt oder in Gedanken eingefangen werden. Laotse sagt (Spruch 1): -89- Könnten wir weisen den Weg, Es wäre kein ewiger Weg. Könnten wir nennen den Namen, Es wäre kein ewiger Name. Oder (Spruch 14): Was du nicht siehst, so sehr du danach schaust, Des Name ist: plan. Was du nicht hörst, so sehr du danach lauschest, Des Name ist: heimlich. Was du nicht fängst, so sehr du danach greifst, Des Name ist: subtil. Diese drei kannst du nicht weiter erkunden; Wahrlich chaotisch sind sie zum Einen verbunden. In Spruch 56 gibt es noch eine andere Formulierung des gleichen Gedankens: Ein Wissender redet nicht [über das Tao, den Weg] Ein Redender weiß nicht. Die brahmanische Philosophie beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen der Mannigfaltigkeit (der Erscheinungen) und der Einheit (Brahman). Aber weder in Indien noch in China wird die paradoxe Philosophie mit einem dualistischen Standpunkt verwechselt. Die Harmonie (Einheit) besteht eben in der Einheit der in ihr enthaltenen Gegensätze. »Von Anbeginn an kreiste das brahmanische Denken um das Paradoxon, daß die Kräfte und Formen der Erscheinungswelt sich gleichzeitig in Antagonismus wie auch in Identität befinden« (H. Zimmer, 1973, S. 304). Die höchste Macht im Universum wie auch im -90- Menschen ist von ihm weder begrifflich noch mit den Sinnen zu erfassen. Sie ist deshalb »weder das noch das«. Aber wie Zimmer dazu bemerkt, »gibt es keinen Antagonismus zwischen ›wirklich‹ und ›unwirklich‹ in dieser streng undualistischen Welt« (a.a.O., S. 309). Auf ihrer Suche nach der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit kamen die brahmanischen Denker zu dem Schluß, daß das von ihnen wahrgenommene Gegensatzpaar nicht Jas Wesen der Dinge, sondern das Wesen des wahrnehmenden Geistes widerspiegelt. Das wahrnehmende Denken muß sich selbst transzendieren, um die wahre Wirklichkeit zu erreichen. Der Widerspruch ist eine Kategorie des menschlichen Geistes und nicht an und für sich ein Element der Wirklichkeit. In dem Rigveda wird dieser Grundsatz folgendermaßen ausgedrückt: »Ich bin beides, die Lebenskraft und der Lebensstoff, die beiden zugleich.« Die letzte Konsequenz aus dieser Idee, daß der menschliche Geist nur in Widersprüchen wahrnehmen kann, ziehen die Veden auf sehr drastische Weise: In den Veden »wurde das Denken mit all seinen feinen Unterscheidungen erkannt als eine nur weiter hinausgeschobene Grenze der Unwissenheit, ja als der allerfeinste Täuschungskniff der Maya« (H. Zimmer, 1973, S. 409). Die paradoxe Logik hat auf die Gottesvorstellung einen bedeutsamen Einfluß. Insofern Gott die letzte Wirklichkeit verkörpert und insofern der menschliche Geist diese Wirklichkeit in Form von Widersprüchen wahrnimmt, kann man über Gott keine positiven Aussagen machen. In dem Vedanta gilt die Idee eines allwissenden und allmächtigen Gottes als Gipfel der Unwissenheit. (Vgl. H. Zimmer, 1973, S. 381 f.) Wir sehen hier den Zusammenhang mit der Namenlosigkeit des Tao, mit dem namenlosen Gott, der sich Moses offenbart, und dem »absoluten Nichts« bei Meister Eckhart. Der Mensch kann nur die negatio, nie aber die positio, die letzte Wirklichkeit, erkennen: »So vermag denn der Mensch überhaupt nicht zu -91- wissen, was Gott ist. Etwas weiß er wohl: was Gott nicht ist. So ruht die Vernunft nimmer als allein in der wesenhaften Wahrheit, die alle Dinge in sich beschlossen hält, damit sie sich nicht zufriedengebe mit irgendwelchen Dingen, sondern immer tiefere Sehnsucht fühle nach dem höchsten und letzten Gute!« (Meister Eckhart, 1934, S. 76). Für Meister Eckhart ist Gott »ein Verneinen des Verneinens und ein Verleugnen des Verleugnens... Alle Kreaturen tragen eine Verneinung in sich; die eine verneint, die andere zu sein« (J. Quint, 1977, S. 252 f.; vgl. auch die negative Theologie des Maimonides). Es ist nur konsequent, daß Gott für Meister Eckhart »das absolute Nichts« ist, genauso wie er für die Kabbala »En Sof«, das Endlose, ist. Ich habe den Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik erörtert, um die Darlegung eines wichtigen Unterschieds in der Auffassung von der Gottesliebe vorzubereiten. Die Lehrer der paradoxen Logik sagen, der Mensch könne die Wirklichkeit nur in ihren Widersprüchen wahrnehmen, und er könne die letzte Einheit der Wirklichkeit, das All- Eine selbst niemals verstandesmäßig erfassen. Das hatte zur Folge, daß man das letzte Ziel nicht mehr auf denkerischem Weg zu finden suchte. Das Denken kann uns nur zur Erkenntnis führen, daß es selbst uns die letzte Antwort nicht geben kann. Die Welt des Denkens bleibt in Paradoxien verfangen. Die einzige Möglichkeit, die Welt letztlich zu erfassen, liegt nicht im Denken, sondern im Akt, im Erleben vom Einssein. So führt die paradoxe Logik zu dem Schluß, daß die Gottesliebe weder im verstandesmäßigen Wissen über Gott noch in der gedanklichen Vorstellung, ihn zu lieben, besteht, sondern im Akt des Erlebens des Einsseins mit Gott. Dies führt dazu, daß das größte Gewicht auf die rechte Art zu leben gelegt wird. Unser gesamtes Leben, jede geringfügige und jede wichtige Handlung, dient der Erkenntnis Gottes - aber nicht einer durch richtiges Denken zu erlangenden Erkenntnis, -92- sondern einer, die im richtigen Handeln begründet ist. Das läßt sich deutlich in den Religionen des Ostens erkennen. Sowohl im Brahmanismus wie auch im Buddhismus und Taoismus ist das letzte Ziel der Religion nicht der rechte Glaube, sondern das richtige Handeln. Das gleiche gilt für die jüdische Religion. Es hat in der jüdischen Überlieferung kaum jemals eine größere Glaubensspaltung gegeben. (Die eine große Ausnahme, der Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern, war im wesentlichen eine Auseinandersetzung zwischen zwei widerstreitenden Gesellschaftsklassen.) Die jüdische Religion hat (besonders seit dem Beginn unserer Zeitrechnung) den Hauptwert auf die rechte Art zu leben, die Halacha, gelegt (ein Begriff, der etwa die gleiche Bedeutung hat wie Tao). In der neueren Geschichte finden wir das gleiche Prinzip im Denken von Spinoza, Marx und Freud. Spinoza legt in seiner Philosophie das Hauptgewicht nicht auf den rechten Glauben, sondern auf die richtige Lebensführung. Marx steht auf dem gleichen Standpunkt, wenn er sagt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern« (K. Marx, 1971, S. 341). Freud wurde durch seine paradoxe Logik zum Prozeß seiner psychoanalytischen Therapie, der sich immer weiter vertiefenden Erfahrung seiner selbst, hingeführt. Vom Standpunkt der paradoxen Logik aus ist nicht das Denken, sondern das Handeln das Wichtigste im Leben. Diese Einstellung hat noch verschiedene weitere Konsequenzen. Zunächst führt sie zur Toleranz, wie wir sie in der indischen und der chinesischen religiösen Entwicklung finden. Wenn nicht das Richtige zu denken der Wahrheit letzter Schluß und der Weg zum Heil ist, besteht auch kein Anlaß, mit anderen zu streiten, deren Denken zu anderen Formulierungen geführt hat. Diese Toleranz kommt besonders schön in der Geschichte von den drei Männern zum Ausdruck, die aufgefordert wurden, im Dunkeln einen Elefanten zu beschreiben. Der eine, der seinen Rüssel -93- betastete, sagte: »Dieses Tier gleicht einem Wasserschlauch«; der andere, der das Ohr befühlte, sagte: »Dieses Tier sieht aus wie ein Fächer«, und der dritte, der ein Bein des Elefanten berührte, verglich ihn mit einer Säule. Zweitens führte die paradoxe Auffassung dazu, stärker die Wandlung des Menschen zu betonen als das Dogma und die Wissenschaft. Vom Standpunk t der indischen und chinesischen Philosophie und Mystik aus besteht die religiöse Aufgabe des Menschen nicht darin, richtig zu denken, sondern richtig zu handeln und (bzw. oder) mit dem Einen im Akt konzentrierter Meditation eins zu werden. Der Hauptstrom des westlichen Denkens verlief in entgegengesetzter Richtung. Da man erwartete, durch richtiges Denken die letzte Wahrheit erkennen zu können, legte man das Hauptgewicht auf das Denken, wenngleich auch das rechte Handeln nicht für unwichtig gehalten wurde. In der religiösen Entwicklung führte das zur Formulierung von Dogmen, zu endlosen Disputen über dogmatische Formulierungen und zu Intoleranz gegen »Ungläubige« oder Ketzer. Außerdem führte es dazu, im »Glauben an Gott« das Hauptziel einer religiösen Einstellung zu sehen. Natürlich bedeutete das nicht, daß nicht daneben auch die Auffassung geherrscht hätte, daß man richtig leben sollte. Trotzdem aber hielt sich jemand, der an Gott glaubte auch dann, wenn er Gott nicht lebte -, für besser als jemand, der Gott lebte, aber nicht an ihn »glaubte«. Diese Betonung des Denkens hatte noch eine weitere, historisch höchst bedeutungsvolle Konsequenz. Die Idee, daß man die Wahrheit auf dem Weg des Denkens finden könne, führte nicht nur zum Dogma, sondern auch zur Wissenschaft. Beim wissenschaftlichen Denken kommt es allein auf das korrekte Denken an, und zwar sowohl in bezug auf die intellektuelle Ehrlichkeit wie auch in bezug auf die Anwendung des wissenschaftlichen Denkens auf die Praxis - das heißt auf die Technik. -94- Kurz, das paradoxe Denken führte zur Toleranz und zur Bemühung, sich selbst zu wandeln. Der aristotelische Standpunkt führte zum Dogma und zur Wissenschaft, zur katholischen Kirche und zur Entdeckung der Atomenergie. Auf die Konsequenzen dieses Unterschieds zwischen den beiden Standpunkten für das Problem der Gottesliebe sind wir implizit bereits eingegangen, und wir brauchen sie daher an dieser Stelle nur noch einmal kurz zusammenzufassen. In den vorherrschenden westlichen Religionssystemen ist die Gottesliebe im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Glauben an Gott, an Gottes Existenz, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe. Die Gottesliebe ist im wesentlichen ein Denkerlebnis. In den östlichen Religionen und in der Mystik ist die Gottesliebe ein intensives Gefühlserlebnis des Einsseins, das nicht davon zu trennen ist, daß diese Liebe in jeder Handlung im Leben zum Ausdruck kommt. Die radikalste Formulierung für dieses Ziel hat Meister Eckhart gefunden: »Was in ein anderes verwandelt wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, daß es da keinerlei Unterschied gibt... Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott (so) sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein« (J. Quint, 1977, S. 186). Damit können wir auf die wichtige Parallele zwischen der Liebe zu den Eltern und der Liebe zu Gott zurückkommen. Das Kind ist zunächst an seine Mutter als den »Grund allen Seins« gebunden. Es fühlt sich hilflos und braucht die allumfassende Liebe der Mutter. Dann wendet es sich dem Vater als dem neuen Mittelpunkt seiner Zuneigung zu, als dem Leitprinzip seines Denkens und Handelns. Auf dieser Stufe wird es von dem Bedürfnis motiviert, sich das Lob des Vaters zu erwerben und zu vermeiden, seinen Unwillen zu erregen. Auf der Stufe der vollen -95- Reife hat es sich dann vo n der Person der Mutter und der des Vaters als den beschützenden und befehlenden Mächten befreit; es hat das mütterliche und das väterliche Prinzip in seinem Inneren errichtet. Es ist zu seinem eigenen Vater, zu seiner eigenen Mutter geworden. Es ist Vater und Mutter. In der Geschichte der menschlichen Rasse können wir - wie zu erwarten - die gleiche Entwicklung beobachten: vom Anfang der Liebe zu Gott als einer hilflosen Bindung an eine Muttergottheit, über die Gehorsamsbindung an einen Vatergott bis zu einem reifen Stadium, wo Gott aufhört, eine äußere Macht zu sein, wo der Mensch die Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit in sein eigenes Innere hineingenommen hat, wo er mit Gott so eins geworden ist, daß er schließlich von ihm nur noch in einem poetischen, symbolischen Sinn spricht. Aus diesen Erwägungen folgt, daß die Liebe zu Gott nicht von der Liebe zu den eigenen Eltern zu trennen ist. Wenn jemand sich nicht von der inzestuösen Bindung an seine Mutter, seine Sippe und seine Nation gelöst hat, wenn er seine kindliche Abhängigkeit von einem strafenden und belohnenden Vater oder irgendwelchen Autoritäten beibehält, dann kann er keine reife Liebe zu Gott entwickeln; dann befindet sich seine Religion noch in jener früheren Phase, wo Gott als die allbeschützende Mutter oder als der strafende und belohnende Vater erlebt wurde. In der heutigen Religion finden wir noch alle diese Phasen vor, von der frühesten und primitivsten bis zur höchsten Entwicklungsstufe. Das Wort »Gott« bezeichnet ebenso den Stammeshäuptling wie das »absolute Nichts«. Freud hat gezeigt, daß im Unbewußten eines jeden Menschen seine sämtlichen Entwicklungsstufen von seiner hilflosen Kindheit an erhalten sind. Die Frage ist, bis zu welchem Punkt der Mensch in seinem Wachstum gelangt ist. Eines ist gewiß: Die Art seiner Liebe zu Gott entspricht der Art seiner Liebe zum Menschen. Außerdem ist ihm die wahre Qualität seiner Liebe zu Gott und den -96- Menschen oft nicht bewußt - sie wird verdeckt und rationalisiert durch seine reiferen Gedanken darüber, wie seine Liebe beschaffen sei. Hinzu kommt, daß die Liebe zum Menschen zwar unmittelbar in seine Beziehungen zur Familie eingebettet ist, daß sie aber letzten Endes durch die Struktur der Gesellschaft determiniert ist, in welcher er lebt. Wenn die Gesellschaftsstruktur durch die Unterwerfung unter eine Autorität gekennzeichnet ist - unter eine offene Autorität oder unter die anonyme Autorität des Marktes und der öffentlichen Meinung -, dann kann seine Gottesvorstellung nur kindlich und weit entfernt von der reifen Auffassung sein, wie sie in der Geschichte der monotheistischen Religion im Keim zu finden ist.
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