Liebe zu Gott

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Liebe zu Gott


Wir haben bereits festgestellt, daß unser Bedürfnis nach Liebe
auf unsere Erfahrung des Getrenntseins und auf das daraus
resultierende Verlangen zurückzuführen ist, die aus der
Getrenntheit entspringende Angst durch die Erfahrung von
Einheit zu überwinden. Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse
Form der Liebe ist psychologisch gesehen nichts anderes. Sie
entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und
Einheit zu erlangen. Tatsächlich hat ja die Liebe zu Gott ebenso
viele verschiedene Qualitäten und Aspekte wie die Liebe zum
Menschen und wir finden bei ihr auch im allgemeinen ebenso
viele Unterschiede.
In allen theistischen Religionen - ob sie nun polytheistisch
oder monotheistisch sind - verkörpert Gott den höchsten Wert,
das erstrebenswerteste Gut. Daher hängt die jeweilige
Bedeutung Gottes davon ab, was dem Betreffenden als
wünschenswertestes Gut erscheint. Um die Gottesvorstellung
eines gläubigen Menschen zu verstehen, sollte man daher mit
einer Analyse seiner Charakterstruktur beginnen.
Die Entwicklung der menschlichen Rasse kann man nach
allem, was wir darüber wissen, als die Loslösung des Menschen
von der Natur, von der Mutter, von der Bindung an Blut und
Boden charakterisieren. Am Anfang seiner Geschichte sieht sich
der Mensch zwar aus seiner ursprünglichen Einheit mit der
Natur ausgestoßen, doch hält er noch weiter an den
ursprünglichen Bindungen fest. Er findet seine Sicherheit, indem
er wieder zurückgeht oder diese ursprünglichen Bindungen
beibehält. Noch immer identifiziert er sich mit der Welt der
Tiere und Bäume, und er versucht dadurch zur Einheit zu
gelangen, daß er eins bleibt mit der Welt der Natur. Von dieser
Entwicklungsstufe zeugen viele primitive Religionen. Da wird
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ein Tier zu einem Totem, man trägt bei besonders feierlichen
religiösen Handlungen oder auch im Krieg Tiermasken; man
verehrt ein Tier als Gott. Auf einer späteren Entwicklungsstufe,
wenn der Mensch sich handwerkliche und künstlerische
Fähigkeiten erworben hat und nicht mehr ausschließlich auf die
Gaben der Natur - die Früchte, die er findet, und die Tiere, die er
jagt - angewiesen ist, verwandelt er das Erzeugnis seiner
eigenen Hände in einen Gott. Es ist dies das Stadium der
Verehrung von Götzen aus Lehm, Silber oder Gold. Der Mensch
projiziert dabei seine eigenen Kräfte und Fertigkeiten in die
Dinge, die er macht, und betet so auf entfremdete Weise sein
eigenes Können, seinen eigenen Besitz an. Auf einer noch
späteren Stufe verleiht der Mensch seinen Göttern menschliche
Gestalt. Offenbar ist er dazu erst imstande, nachdem er sich
seiner selbst stärker bewußt geworden ist und den Menschen als
das höchste und ehrwürdigste »Ding« auf der Welt entdeckt hat.
In dieser Phase der anthropomorphen Gottesverehrung verläuft
die Entwicklung in zwei Dimensionen. Im einen Fall ist die
weibliche oder die männliche Natur der Götter ausschlaggebend;
im anderen Fall hängt die Art der Götter und die Art, wie sie
geliebt und verehrt werden, vom Grad der Reife ab, den die
Menschen erreicht haben.
Beschäftigen wir uns zunächst mit der Entwicklung von
matrizentrischen zu patrizentrischen Religionen. Entsprechend
den großen, entscheidenden Entdeckungen von Bachofen und
Morgan um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und trotz
des Widerspruchs, auf den sie mit ihren Entdeckungen in den
meisten akademischen Kreisen gestoßen sind, besteht kaum ein
Zweifel, daß zum mindesten in vielen Kulturen eine Phase der
matriarcha lischen Religion der patriarchalischen vorangegangen
ist. In der matriarchalischen Phase ist das höchste Wesen die
Mutter. Sie ist die Göttin, und sie ist auch in Familie und
Gesellschaft die Autoritätsperson. Um das Wesen der
matriarchalischen Religion zu verstehen, brauchen wir uns nur
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daran zu erinnern, was wir über das Wesen der mütterlichen
Liebe gesagt haben. Die Mutterliebe stellt keine Bedingungen,
sie ist allbeschützend und allumfassend. Da sie keine
Bedingungen stellt, entzieht sie sich jeder Kontrolle, und man
kann sie sich nicht erwerben. Ihr Besitz ist Seligkeit; ihr Fehlen
führt zu einem Gefühl der Verlorenheit und zu äußerster
Verzweiflung. Da Mütter ihre Kinder lieben, weil sie ihre
Kinder sind und nicht weil sie »brav« und gehorsam sind oder
weil sie tun, was sie von ihnen wünschen oder verlangen, beruht
die Mutterliebe auf Gleichheit. Alle Menschen sind gleich, weil
sie alle Kinder einer Mutter sind, weil sie alle Kinder der Mutter
Erde sind.
Das nächste Stadium der menschlichen Entwicklung, das
einzige, von dem wir genaue Kenntnis haben und bei dem wir
nicht auf Rückschlüsse und Rekonstruktionen angewiesen sind,
ist die patriarchalische Phase. In dieser Phase wird die Mutter
von ihrer alles beherrschenden Stellung entthront, und der Vater
wird in der Religion wie auch in der Gesellschaft zum höchsten
Wesen. Das Wesen der väterlichen Liebe besteht darin, daß er
Forderungen stellt, daß er Gesetze aufstellt und daß seine Liebe
zu seinem Sohn davon abhängt, ob dieser seinen Befehlen
gehorcht. Er liebt denjenigen Sohn am meisten, der ihm am
ähnlichsten ist, der ihm am meisten gehorcht und sich am besten
zu seinem Nachfolger als Erbe seines Besitzes eignet. (Die
Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft geht Hand in
Hand mit der Entwicklung des Privateigentums.)
Die Folge ist, daß die patriarchalische Gesellschaft
hierarchisch gegliedert ist; die Gleichheit der Brüder muß dem
Wettbewerb und Wettstreit weichen. Ob wir an die indische, die
ägyptische oder griechische Kultur oder an die jüdischchristliche
oder islamische Religion denken - immer stehen wir inmitten
einer patriarchalischen Welt mit ihren männlichen Göttern, über
die ein Hauptgott regiert, oder wo alle Götter außer dem Einen,
dem Gott abgeschafft wurden. Da jedoch das Verlangen nach
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der Liebe einer Mutter aus den Herzen der Menschen nicht
auszurotten ist, ist es nicht verwunderlich, daß die Figur der
liebenden Mutter aus dem Pantheon nie ganz vertrieben wurde.
Im Judentum wurden, besonders in den verschiedenen
mystischen Strömungen, die mütterlichen Aspekte Gottes
wieder aufgegriffen. In der katholischen Religion symbolisieren
die Kirche und die Jungfrau Maria die Mutter. Selbst im
Protestantismus ist die Mutterfigur nicht ganz ausgemerzt, wenn
sie auch im verborgenen bleibt. Luthers Hauptthese lautete, daß
sich der Mensch Gottes Liebe nicht durch seine eigenen guten
Werke verdienen kann. Gottes Liebe ist Gnade, der gläubige
Mensch sollte auf diese Gnade vertrauen und sich klein und
hilfsbedürftig machen. Gute Werke können Gott nicht
beeinflussen; sie können ihn nicht veranlassen, uns zu lieben,
wie das die katholische Kirche lehrt. Wir erkennen hier, daß die
katholische Lehre von den guten Werken in das patriarchalische
Bild hineingehört. Ich kann mir die Liebe des Vaters dadurch
erwerben, daß ich ihm gehorche und seine Gebote erfülle.
Dagegen enthält die lutherische Lehre trotz ihres manifesten
patriarchalischen Charakters ein verborgenes matriarchalisches
Element. Die Liebe der Mutter kann man sich nicht erwerben;
man besitzt sie, oder man besitzt sie nicht. Alles, was man tun
kann, ist, sich in ein hilfloses, machtloses Kind zu verwandeln
und Vertrauen zu haben. Wie der Psalmist sagt: »Du bist es, der
mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust
der Mutter« (Ps 22,10). Aber es ist eine Besonderheit Luthers,
daß bei ihm die Mutterfigur aus dem manifesten Bild seines
Glaubens herausgenommen und durch die Vaterfigur ersetzt ist.
Anstelle der Gewißheit, von der Mutter geliebt zu werden, ist
ein intensiver Zweifel, die Hoffnung, entgegen aller Hoffnung
von dem Vater bedingungslos geliebt zu werden, das
hervorstechendste Merkmal seines Glaubens. Ich mußte auf
diesen Unterschied zwischen den matriarchalischen und den
patriarchalischen Elementen in der Religion eingehen, um zu
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zeigen, daß der Charakter der Liebe zu Gott von dem jeweiligen
Gewicht der matriarchalischen und der patriarchalischen
Aspekte der Religion abhängt. Der patriarchalische Aspekt
veranlaßt mich, Gott wie einen Vater zu lieben; ich nehme dann
an, daß er gerecht und streng ist, daß er belohnt und bestraft und
daß er mich schließlich als seinen Lieblingssohn auserwählen
wird, so wie Gott Abraham und Israel auserwählte, wie Isaak
Jakob und wie Gott sein Lieblingsvolk auserwählte. Der
matriarchalische Aspekt der Religion erlaubt, daß ich Gott als
eine allumfassende Mutter liebe. Ich vertraue darauf, daß sie
mich lieben wird, ganz gleich, ob ich arm und hilflos bin und ob
ich gesündigt habe, und daß sie mir keine anderen Kinder
vorziehen wird. Was auch immer mit mir geschieht, sie wird mir
zu Hilfe kommen; sie wird mich retten und mir vergeben. Es
erübrigt sich zu sagen, daß meine Liebe zu Gott und Gottes
Liebe zu mir nicht voneinander zu trennen sind. Wenn Gott ein
Vater ist liebt er mich wie einen Sohn, und ich liebe ihn wie
einen Vater. Wenn Gott eine Mutter ist, so sind ihre und meine
Liebe hierdurch bestimmt. Der Unterschied zwischen dem
mütterlichen und dem väterlichen Aspekt der Liebe zu Gott ist
jedoch nur ein Faktor bei der Wesensbestimmung dieser Liebe.
Der andere Faktor ist der Reifegrad des Individuums, von dem
auch der Grad der Reife seiner Gottesvorstellung und seiner
Gottesliebe abhängt.
Da sich die menschliche Rasse von einer Gesellschaftsstruktur
und einer Religion, in deren Mittelpunkt die Mutter stand, zu
einer solchen entwickelte, in deren Zentrum der Vater steht,
können wir die Entwicklung einer reifer werdenden Liebe in
erster Linie an der Entwicklung der partriarchalischen Religion
verfolgen. (Das gilt besonders für die monotheistischen
Religionen des Westens. In den indischen Religionen haben die
Mutterfiguren ihren Einfluß größtenteils behalten, wie zum
Beispiel die Göttin Kali. Im Buddhismus und im Taoismus war
die Vorstellung von einem Gott - oder einer Göttin - ohne
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wesentliche Bedeutung, soweit sie nicht überhaupt völlig
eliminiert wurde.) Zu Beginn der Entwicklung finden wir einen
despotischen, eifersüchtigen Gott, der den Menschen, den er
schuf, als seinen Besitz ansieht und mit ihm machen kann, was
er will. Es ist dies die Phase der Religion, in der Gott den
Menschen aus dem Paradies vertreibt, damit er nicht vom Baum
der Erkenntnis ißt und wie Gott selbst wird; es ist die Phase, in
der Gott beschließt, die menschliche Rasse durch die Sintflut zu
vernichten, weil keiner, der ihr angehört, ihm ge fällt, außer
seinem Lieblingssohn Noah; es ist die Phase, in der Gott von
Abraham verlangt, seinen einzigen geliebten Sohn Isaak zu
töten, um seine Liebe zu Gott durch einen Akt äußersten
Gehorsams unter Beweis zu stellen. Aber gleichzeitig beginnt
eine neue Phase; Gott schließt mit Noah einen Bund, in dem er
verspricht, nie wieder die menschliche Rasse zu vernichten,
einen Bund, an den er selbst gebunden ist. Er ist nicht nur durch
sein Versprechen gebunden, sondern auch durch sein eigenes
Prinzip der Gerechtigkeit, aufgrund dessen er Abrahams
Forderung nachgeben muß, Sodom zu verschonen, sofern sich
wenigstens zehn Gerechte darin fanden. Aber die Entwicklung
geht noch weiter, und Gott verwandelt sich nicht nur aus der
Figur eines despotischen Stammeshäuptlings in einen liebenden
Vater, in einen Vater, der selbst an die von ihm geforderten
Grundsätze gebunden ist, sie verläuft in der Richtung, daß Gott
sich aus einer Vaterfigur in das Symbol seiner Prinzipien:
Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe verwandelt. Gott ist
Wahrheit, Gott ist Gerechtigkeit. Im Verlauf dieser Entwicklung
hört Gott auf, eine Person zu sein; er wird zum Symbol für das
Prinzip der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen, zum Symbol für die Vision einer Blume, die aus
dem geistigen Samen im Menschen wächst. Gott kann keinen
Namen haben. Ein Name bezeichnet immer ein Ding oder eine
Person, etwas Bestimmtes. Wie kann Gott einen Namen haben,
wenn er weder eine Person noch ein Ding ist?
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Das deutlichste Beispiel für diesen Wandel ist die biblische
Geschichte, in der sich Gott Moses offenbart. Gott macht Moses
ein Zugeständnis, als dieser sagt, die Hebräer würden ihm nicht
glauben, daß Gott ihn schickt, falls er ihnen nicht Gottes Namen
nennen könne. (Wie könnten auch Götzenanbeter einen
namenlosen Gott begreifen, da es ja gerade das Wesen eines
Götzen ausmacht, daß er einen Namen hat.) Gott macht Moses
ein Zugeständnis. Er sagt ihm, sein Name sei »Ich bin der
›Ichbinda‹« (Ex 3,14). Mit diesem Namen »Ichbinda« sagt er,
daß er nicht bestimmbar ist, keine Person und kein »Seiendes«.
Die treffendste Übersetzung seiner Namensangabe würde wohl
sein: »Mein Name ist Namenlos«. Das Verbot, sich irgendein
Bild von Gott zu machen, seinen Namen unnütz auszusprechen
und schließlich seinen Namen überhaupt auszusprechen, zielt
ebenfalls darauf ab, den Menschen von der Vorstellung
freizumachen, daß Gott ein Vater, daß er eine Person sei. In der
späteren theologischen Entwicklung wird dieser Gedanke
dahingehend weitergeführt, daß man Gott überhaupt keine
positiven Eigenschaften zuschreiben soll. Sagt man, Gott sei
weise, stark und gut, so setzt man voraus, daß er eine Person ist;
man kann über Gott nur das aussagen, was er nicht ist; man kann
lediglich seine negativen Attribute feststellen: daß er nicht
endlich, nicht ohne Liebe und nicht ungerecht ist. Je mehr ich
darüber weiß, was Gott nicht ist, um so mehr weiß ich von ihm.
(Vgl. Maimonides' Auffassung von den negativen Attributen, M.
Maimonides, 1972.)
Wenn man die sich entfaltende Idee des Monotheismus
weiterverfolgt, so kann man nur zu dem Schluß kommen, Gottes
Namen überhaupt nicht mehr zu erwähnen und überhaupt nicht
mehr über Gott zu sprechen. Dann wird Gott zu dem, was er
potentiell in der monotheistischen Theologie ist, das namenlose
Eine, ein nicht in Worte zu fassendes Gestammel, das sich auf
die der Erscheinungswelt zugrundeliegende Einheit, auf den
Grund allen Daseins bezieht. Gott wird Wahrheit, Liebe,
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Gerechtigkeit. Gott, das bin ich, insofern ich menschlich bin.
Natürlich bewirkt diese Entwicklung vom anthropomorphen
zu einem rein monotheistischen Prinzip große Unterschiede in
der Art der Gottesliebe. Den Gott Abrahams kann man wie
einen Vater lieben oder fürchten, wobei manchmal seine
Vergebung und manchmal sein Zorn dominiert. Insofern Gott
Vater ist, bin ich das Kind. Ich habe mich noch nicht ganz von
dem autistischen Verlangen nach Allwissenheit und Allmacht
freigemacht. Ich habe noch nicht die Objektivität erlangt, mir
meine Grenzen als menschliches Wesen, meine Unwissenheit,
meine Hilflosigkeit klarzumachen. Wie ein Kind mache ich
noch immer den Anspruch geltend, daß ein Vater dasein muß,
der mir zu Hilfe kommt, der auf mich achtgibt und der mich
bestraft, ein Vater, der mich liebt, wenn ich ihm gehorche, der
sich geschmeichelt fühlt, wenn ich ihn lobe, und der zornig
wird, wenn ich ihm nicht gehorche. Ganz offensichtlich haben
die meisten Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung dieses
infantile Stadium noch nicht überwunden, so daß für die meisten
der Glaube an Gott gleichbedeutend ist mit dem Glauben an
einen helfenden Vater - eine kindliche Illusion. Wenn auch
einige der großen Lehrer der Menschheit und eine Minderheit
unter den Menschen diese Religionsauffassung überwunden
haben, so ist sie doch noch immer die dominierende Form von
Religion.
Soweit dies zutrifft, hatte Freud mit seiner Kritik an der
Gottesidee völlig recht. Sein Irrtum lag jedoch darin, daß er den
anderen Aspekt der monotheistischen Religion, nämlich ihren
eigentlichen Kern, übersah, welcher in seiner letzten
Konsequenz zur Negation der Gottesvorstellung führt. Wenn ein
wahrhaft religiöser Mensch sich dem Wesen der monotheistischen
Idee entsprechend verhält, dann betet er nicht um
etwas, dann erwartet er nichts von Gott; er liebt Gott nicht so,
wie ein Kind seinen Vater oder seine Mutter liebt; er hat sich zu
der Demut durchgerungen, daß er seine Grenzen fühlt und weiß,
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daß er über Gott nichts wissen kann. Gott wird für ihn zu dem
Symbol, in dem der Mensch auf einer früheren Stufe seiner
Evolution alles das zum Ausdruck brachte, was das Ziel seines
Strebens war: den Bereich der geistigen Welt, Liebe, Wahrheit
und Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch vertraut auf die
Prinzipien, die »Gott« repräsentieren; er denkt die Wahrheit, er
lebt die Liebe und Gerechtigkeit, und er hält sein Leben nur
soweit für wertvoll, als es ihm die Chance gibt, zu einer immer
reicheren Entfaltung seiner menschlichen Kräfte zu gelangen -
als der einzigen Realität, auf die es ankommt, als des einzigen,
was ihn »unbedingt angeht«. Schließlich spric ht er dann nicht
mehr über Gott und erwähnt nicht einmal mehr seinen Namen.
Wenn er sich überhaupt dieser Bezeichnung bedient, dann heißt
Gott lieben für ihn soviel wie sich danach sehnen, die volle
Liebesfähigkeit zu erlangen und das in sich zu verwirklichen,
was »Gott« in einem selbst bedeutet.
Von diesem Standpunkt aus ist die Negation aller
»Theologie«, alles Wissens über Gott, die logische Konsequenz
monotheistischen Denkens. Es gibt jedoch einen Unterschied
zwischen einer so radikalen nichttheologischen Auffassung und
einem nichttheistischen System, wie wir es zum Beispiel im
frühen Buddhismus oder im Taoismus finden.
Alle theistischen Systeme, selbst die nichttheologischen,
mystischen Systeme, postulieren einen spirituellen, den
Menschen transzendierenden, jenseitigen Bereich, der den
spirituellen Kräften des Menschen und seinem Verlangen nach
Erlösung und nach einem inneren Neugeborenwerden
Bedeutung und Geltung verleiht. In einem nichttheistischen
System gibt es einen solchen spirituellen, jenseits des Menschen
existierenden oder ihn transzendierenden Bereich nicht. Der
Bereich der Liebe, Vernunft und Gerechtigkeit existiert als
Realität nur deshalb und insofern, als der Mensch es vermochte,
während des gesamten Evolutionsprozesses diese Kräfte in sich
zu entwickeln. Nach dieser Auffassung besitzt das Leben keinen
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Sinn außer dem, den der Mensch ihm gibt; die Menschen sind
völlig allein und können ihre Einsamkeit nur überwinden, indem
sie einander helfen.
Im Zusammenhang mit der Liebe zu Gott möchte ich
klarstellen, daß meine eigene Auffassung keine theistische ist.
Ich halte die Gottesvorstellung für eine historisch bedingte und
bin der Ansicht, daß der Mensch in einer bestimmten
historischen Periode die Erfahrung der eigenen höheren Kräfte,
seine Sehns ucht nach Wahrheit und Einheit darin zum Ausdruck
gebracht hat. Aber ich meine andererseits, daß die aus einem
strengen Monotheismus zu ziehenden Konsequenzen und die,
welche sich aus einem nichttheistischen, »unbedingten
Interesse« an der spirituellen Wirklichkeit ergeben, zwar
verschieden sind, aber sich deshalb nicht unbedingt gegenseitig
bekämpfen müssen. Hier zeigt sich jedoch das Problem der
Gottesliebe noch in einer anderen Dimension, die wir
diskutieren müssen, um die ganze Komplexität des Problems zu
erfassen. Ich meine den grundlegenden Unterschied zwischen
der religiösen Einstellung des Ostens (Chinas und Indiens) und
der des Westens. Dieser Unterschied läßt sich am Verständnis
von Logik erläutern. Seit Aristoteles hat sich die westliche Welt
an die logischen Prinzipien der aristotelischen Philosophie
gehalten. Diese Logik gründet sich auf den Satz von der
Identität (A ist gleich A), auf den Satz vom Widerspruch (A ist
nicht gleich Nicht-A) sowie auf den Satz vom ausgeschlossenen
Dritten (A kann nicht A und gleichzeitig Nicht-A sein,
genausowenig wie es gleichzeitig weder A noch Nicht-A sein
kann). Aristoteles erklärt seine Auffassung sehr klar in dem
Satz, »daß ein und dasselbe demselben nicht zugleich
zugesprochen und abgesprochen werden könne... Dies ist die
sicherste Grundlage...« (Metaphysik, 1005 b). Dieses Axiom der
aristotelischen Logik hat unsere Denkgewohnheiten so tief
beeinflußt, daß wir es als natürlich und selbstverständlich
empfinden, während uns die Behauptung, X sei zugleich A und
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Nicht-A, unsinnig vorkommt. (Natürlich bezieht sich diese
Behauptung auf den Faktor X zu einem bestimmten Zeitpunkt
und nicht auf X zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt oder
auf einen bestimmten Aspekt von X im Gegensatz zu einem
anderen Aspekt.)
Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht das, was man als
paradoxe Logik bezeichnen könnte. Dabei wird angenommen,
daß A und Nicht-A sich als Prädikat von X nicht ausschließen.
Die paradoxe Logik dominierte im chinesischen und indischen
Denken und in der Philosophie des Heraklit. Später tauchte sie
unter der Bezeichnung Dialektik in der Philosophie von Hegel
und Marx wieder auf. Das allgemeine Prinzip der paradoxen
Logik hat Laotse sehr klar zum Ausdruck gebracht: »Wirklich
wahre Worte sind paradox.« (Laotse, Taoteking, Spruch 78).
Tschuangtse sagt: »Das, was eins ist, ist eins. Das, was nichteins
ist, ist auch eins.« Diese Formulierungen der paradoxen Logik
sind positiv: Es ist, und es ist nicht. Eine andere Formulierung
ist negativ: Es ist weder dies noch das. Positive Formulierungen
des Gedankens finden wir im taoistischen Denken, bei Heraklit
und später wieder in Hegels Dialektik; negative Formulierungen
sind in der indischen Philosophie häufig anzutreffen.
Es ginge über den Rahmen dieses Buches, den Unterschied
zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik
ausführlicher darzulegen. Dennoch möchte ich zur
Verdeutlichung des Prinzips einige Beispiele anfuhren. Im
westlichen Denken kommt die paradoxe Logik zuerst in der
Philosophie Heraklits zum Ausdruck. Dieser nimmt an, daß der
Konflikt zwischen Gegensätzen die Grundlage jeder Existenz
ist. »Sie begreifen nicht«, sagt Heraklit, »daß es (das All-Eine),
auseinanderstrebend, mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende
Harmonie wie bei Bogen und Leier« (Heraklit, 1953,
S. 134). Oder noch deutlicher: »Wir steigen in denselben Fluß,
und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht«
(a.a.O., S. 132). Oder: »Ein und dasselbe offenbart sich in den
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Dingen als Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes,
Junges und Altes« (a.a.O., S. 133).
Laotse drückt das gleiche in poetischerer Form in seiner
Philosophie aus. Ein charakteristisches Beispiel für das
taoistische Denken ist folgender Ausspruch (Spruch 26):
Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund; Das Stille ist des
Ungestümen Herr.
Oder (Spruch 37):
Der Weg ist ewig ohne Tun; Aber nichts, was ungetan bliebe.
Oder (Spruch 70):
Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen und sehr leicht
auszuführen.
Doch im ganzen Reich vermag niemand, sie zu verstehen,
Vermag niemand, sie auszuführen.
Genau wie im indischen und im sokratischen Denken ist auch
im taoistischen die höchste Stufe, zu der das Denken führen
kann, das Wissen, daß wir nichts wissen (Spruch 71):
Um sein Nichtwissen wissen ist das Höchste. Um sein Wissen
nicht wissen ist krankhaft.
Für diese Philosophie ist es nur konsequent, wenn der höchste
Gott keinen Namen hat. Die letzte Realität, das letzte Eine, kann
nicht in Worte gefaßt oder in Gedanken eingefangen werden.
Laotse sagt (Spruch 1):
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Könnten wir weisen den Weg, Es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen, Es wäre kein ewiger Name.
Oder (Spruch 14):
Was du nicht siehst, so sehr du danach schaust, Des Name ist:
plan.
Was du nicht hörst, so sehr du danach lauschest, Des Name
ist: heimlich.
Was du nicht fängst, so sehr du danach greifst, Des Name ist:
subtil.
Diese drei kannst du nicht weiter erkunden;
Wahrlich chaotisch sind sie zum Einen verbunden.
In Spruch 56 gibt es noch eine andere Formulierung des
gleichen Gedankens:
Ein Wissender redet nicht [über das Tao, den Weg]
Ein Redender weiß nicht.
Die brahmanische Philosophie beschäftigte sich mit der
Beziehung zwischen der Mannigfaltigkeit (der Erscheinungen)
und der Einheit (Brahman). Aber weder in Indien noch in China
wird die paradoxe Philosophie mit einem dualistischen
Standpunkt verwechselt. Die Harmonie (Einheit) besteht eben in
der Einheit der in ihr enthaltenen Gegensätze. »Von Anbeginn
an kreiste das brahmanische Denken um das Paradoxon, daß die
Kräfte und Formen der Erscheinungswelt sich gleichzeitig in
Antagonismus wie auch in Identität befinden« (H. Zimmer,
1973, S. 304). Die höchste Macht im Universum wie auch im
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Menschen ist von ihm weder begrifflich noch mit den Sinnen zu
erfassen. Sie ist deshalb »weder das noch das«. Aber wie
Zimmer dazu bemerkt, »gibt es keinen Antagonismus zwischen
›wirklich‹ und ›unwirklich‹ in dieser streng undualistischen
Welt« (a.a.O., S. 309).
Auf ihrer Suche nach der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit
kamen die brahmanischen Denker zu dem Schluß, daß das von
ihnen wahrgenommene Gegensatzpaar nicht Jas Wesen der
Dinge, sondern das Wesen des wahrnehmenden Geistes
widerspiegelt. Das wahrnehmende Denken muß sich selbst
transzendieren, um die wahre Wirklichkeit zu erreichen. Der
Widerspruch ist eine Kategorie des menschlichen Geistes und
nicht an und für sich ein Element der Wirklichkeit. In dem
Rigveda wird dieser Grundsatz folgendermaßen ausgedrückt:
»Ich bin beides, die Lebenskraft und der Lebensstoff, die beiden
zugleich.« Die letzte Konsequenz aus dieser Idee, daß der
menschliche Geist nur in Widersprüchen wahrnehmen kann,
ziehen die Veden auf sehr drastische Weise: In den Veden
»wurde das Denken mit all seinen feinen Unterscheidungen
erkannt als eine nur weiter hinausgeschobene Grenze der
Unwissenheit, ja als der allerfeinste Täuschungskniff der Maya«
(H. Zimmer, 1973, S. 409).
Die paradoxe Logik hat auf die Gottesvorstellung einen
bedeutsamen Einfluß. Insofern Gott die letzte Wirklichkeit
verkörpert und insofern der menschliche Geist diese
Wirklichkeit in Form von Widersprüchen wahrnimmt, kann man
über Gott keine positiven Aussagen machen. In dem Vedanta
gilt die Idee eines allwissenden und allmächtigen Gottes als
Gipfel der Unwissenheit. (Vgl. H. Zimmer, 1973, S. 381 f.) Wir
sehen hier den Zusammenhang mit der Namenlosigkeit des Tao,
mit dem namenlosen Gott, der sich Moses offenbart, und dem
»absoluten Nichts« bei Meister Eckhart. Der Mensch kann nur
die negatio, nie aber die positio, die letzte Wirklichkeit,
erkennen: »So vermag denn der Mensch überhaupt nicht zu
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wissen, was Gott ist. Etwas weiß er wohl: was Gott nicht ist. So
ruht die Vernunft nimmer als allein in der wesenhaften
Wahrheit, die alle Dinge in sich beschlossen hält, damit sie sich
nicht zufriedengebe mit irgendwelchen Dingen, sondern immer
tiefere Sehnsucht fühle nach dem höchsten und letzten Gute!«
(Meister Eckhart, 1934, S. 76).
Für Meister Eckhart ist Gott »ein Verneinen des Verneinens
und ein Verleugnen des Verleugnens... Alle Kreaturen tragen
eine Verneinung in sich; die eine verneint, die andere zu sein«
(J. Quint, 1977, S. 252 f.; vgl. auch die negative Theologie des
Maimonides). Es ist nur konsequent, daß Gott für Meister
Eckhart »das absolute Nichts« ist, genauso wie er für die
Kabbala »En Sof«, das Endlose, ist.
Ich habe den Unterschied zwischen der aristotelischen und der
paradoxen Logik erörtert, um die Darlegung eines wichtigen
Unterschieds in der Auffassung von der Gottesliebe
vorzubereiten. Die Lehrer der paradoxen Logik sagen, der
Mensch könne die Wirklichkeit nur in ihren Widersprüchen
wahrnehmen, und er könne die letzte Einheit der Wirklichkeit,
das All- Eine selbst niemals verstandesmäßig erfassen. Das hatte
zur Folge, daß man das letzte Ziel nicht mehr auf denkerischem
Weg zu finden suchte. Das Denken kann uns nur zur Erkenntnis
führen, daß es selbst uns die letzte Antwort nicht geben kann.
Die Welt des Denkens bleibt in Paradoxien verfangen. Die
einzige Möglichkeit, die Welt letztlich zu erfassen, liegt nicht im
Denken, sondern im Akt, im Erleben vom Einssein. So führt die
paradoxe Logik zu dem Schluß, daß die Gottesliebe weder im
verstandesmäßigen Wissen über Gott noch in der gedanklichen
Vorstellung, ihn zu lieben, besteht, sondern im Akt des Erlebens
des Einsseins mit Gott.
Dies führt dazu, daß das größte Gewicht auf die rechte Art zu
leben gelegt wird. Unser gesamtes Leben, jede geringfügige und
jede wichtige Handlung, dient der Erkenntnis Gottes - aber nicht
einer durch richtiges Denken zu erlangenden Erkenntnis,
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sondern einer, die im richtigen Handeln begründet ist. Das läßt
sich deutlich in den Religionen des Ostens erkennen. Sowohl im
Brahmanismus wie auch im Buddhismus und Taoismus ist das
letzte Ziel der Religion nicht der rechte Glaube, sondern das
richtige Handeln. Das gleiche gilt für die jüdische Religion. Es
hat in der jüdischen Überlieferung kaum jemals eine größere
Glaubensspaltung gegeben. (Die eine große Ausnahme, der
Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern, war im
wesentlichen eine Auseinandersetzung zwischen zwei
widerstreitenden Gesellschaftsklassen.) Die jüdische Religion
hat (besonders seit dem Beginn unserer Zeitrechnung) den
Hauptwert auf die rechte Art zu leben, die Halacha, gelegt (ein
Begriff, der etwa die gleiche Bedeutung hat wie Tao).
In der neueren Geschichte finden wir das gleiche Prinzip im
Denken von Spinoza, Marx und Freud. Spinoza legt in seiner
Philosophie das Hauptgewicht nicht auf den rechten Glauben,
sondern auf die richtige Lebensführung. Marx steht auf dem
gleichen Standpunkt, wenn er sagt: »Die Philosophen haben die
Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu
verändern« (K. Marx, 1971, S. 341). Freud wurde durch seine
paradoxe Logik zum Prozeß seiner psychoanalytischen
Therapie, der sich immer weiter vertiefenden Erfahrung seiner
selbst, hingeführt.
Vom Standpunkt der paradoxen Logik aus ist nicht das
Denken, sondern das Handeln das Wichtigste im Leben. Diese
Einstellung hat noch verschiedene weitere Konsequenzen.
Zunächst führt sie zur Toleranz, wie wir sie in der indischen und
der chinesischen religiösen Entwicklung finden. Wenn nicht das
Richtige zu denken der Wahrheit letzter Schluß und der Weg
zum Heil ist, besteht auch kein Anlaß, mit anderen zu streiten,
deren Denken zu anderen Formulierungen geführt hat. Diese
Toleranz kommt besonders schön in der Geschichte von den drei
Männern zum Ausdruck, die aufgefordert wurden, im Dunkeln
einen Elefanten zu beschreiben. Der eine, der seinen Rüssel
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betastete, sagte: »Dieses Tier gleicht einem Wasserschlauch«;
der andere, der das Ohr befühlte, sagte: »Dieses Tier sieht aus
wie ein Fächer«, und der dritte, der ein Bein des Elefanten
berührte, verglich ihn mit einer Säule.
Zweitens führte die paradoxe Auffassung dazu, stärker die
Wandlung des Menschen zu betonen als das Dogma und die
Wissenschaft. Vom Standpunk t der indischen und chinesischen
Philosophie und Mystik aus besteht die religiöse Aufgabe des
Menschen nicht darin, richtig zu denken, sondern richtig zu
handeln und (bzw. oder) mit dem Einen im Akt konzentrierter
Meditation eins zu werden.
Der Hauptstrom des westlichen Denkens verlief in
entgegengesetzter Richtung. Da man erwartete, durch richtiges
Denken die letzte Wahrheit erkennen zu können, legte man das
Hauptgewicht auf das Denken, wenngleich auch das rechte
Handeln nicht für unwichtig gehalten wurde. In der religiösen
Entwicklung führte das zur Formulierung von Dogmen, zu
endlosen Disputen über dogmatische Formulierungen und zu
Intoleranz gegen »Ungläubige« oder Ketzer. Außerdem führte
es dazu, im »Glauben an Gott« das Hauptziel einer religiösen
Einstellung zu sehen. Natürlich bedeutete das nicht, daß nicht
daneben auch die Auffassung geherrscht hätte, daß man richtig
leben sollte. Trotzdem aber hielt sich jemand, der an Gott
glaubte auch dann, wenn er Gott nicht lebte -, für besser als
jemand, der Gott lebte, aber nicht an ihn »glaubte«.
Diese Betonung des Denkens hatte noch eine weitere,
historisch höchst bedeutungsvolle Konsequenz. Die Idee, daß
man die Wahrheit auf dem Weg des Denkens finden könne,
führte nicht nur zum Dogma, sondern auch zur Wissenschaft.
Beim wissenschaftlichen Denken kommt es allein auf das
korrekte Denken an, und zwar sowohl in bezug auf die
intellektuelle Ehrlichkeit wie auch in bezug auf die Anwendung
des wissenschaftlichen Denkens auf die Praxis - das heißt auf
die Technik.
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Kurz, das paradoxe Denken führte zur Toleranz und zur
Bemühung, sich selbst zu wandeln. Der aristotelische
Standpunkt führte zum Dogma und zur Wissenschaft, zur
katholischen Kirche und zur Entdeckung der Atomenergie. Auf
die Konsequenzen dieses Unterschieds zwischen den beiden
Standpunkten für das Problem der Gottesliebe sind wir implizit
bereits eingegangen, und wir brauchen sie daher an dieser Stelle
nur noch einmal kurz zusammenzufassen.
In den vorherrschenden westlichen Religionssystemen ist die
Gottesliebe im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Glauben
an Gott, an Gottes Existenz, Gottes Gerechtigkeit und Gottes
Liebe. Die Gottesliebe ist im wesentlichen ein Denkerlebnis. In
den östlichen Religionen und in der Mystik ist die Gottesliebe
ein intensives Gefühlserlebnis des Einsseins, das nicht davon zu
trennen ist, daß diese Liebe in jeder Handlung im Leben zum
Ausdruck kommt. Die radikalste Formulierung für dieses Ziel
hat Meister Eckhart gefunden: »Was in ein anderes verwandelt
wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn
verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als
eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, daß
es da keinerlei Unterschied gibt... Manche einfältigen Leute
wähnen, sie sollten Gott (so) sehen, als stünde er dort und sie
hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. Durch das
Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe
hingegen gehe ich in Gott ein« (J. Quint, 1977, S. 186).
Damit können wir auf die wichtige Parallele zwischen der
Liebe zu den Eltern und der Liebe zu Gott zurückkommen. Das
Kind ist zunächst an seine Mutter als den »Grund allen Seins«
gebunden. Es fühlt sich hilflos und braucht die allumfassende
Liebe der Mutter. Dann wendet es sich dem Vater als dem neuen
Mittelpunkt seiner Zuneigung zu, als dem Leitprinzip seines
Denkens und Handelns. Auf dieser Stufe wird es von dem
Bedürfnis motiviert, sich das Lob des Vaters zu erwerben und zu
vermeiden, seinen Unwillen zu erregen. Auf der Stufe der vollen
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Reife hat es sich dann vo n der Person der Mutter und der des
Vaters als den beschützenden und befehlenden Mächten befreit;
es hat das mütterliche und das väterliche Prinzip in seinem
Inneren errichtet. Es ist zu seinem eigenen Vater, zu seiner
eigenen Mutter geworden. Es ist Vater und Mutter. In der
Geschichte der menschlichen Rasse können wir - wie zu
erwarten - die gleiche Entwicklung beobachten: vom Anfang der
Liebe zu Gott als einer hilflosen Bindung an eine Muttergottheit,
über die Gehorsamsbindung an einen Vatergott bis zu einem
reifen Stadium, wo Gott aufhört, eine äußere Macht zu sein, wo
der Mensch die Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit in sein
eigenes Innere hineingenommen hat, wo er mit Gott so eins
geworden ist, daß er schließlich von ihm nur noch in einem
poetischen, symbolischen Sinn spricht.
Aus diesen Erwägungen folgt, daß die Liebe zu Gott nicht von
der Liebe zu den eigenen Eltern zu trennen ist. Wenn jemand
sich nicht von der inzestuösen Bindung an seine Mutter, seine
Sippe und seine Nation gelöst hat, wenn er seine kindliche
Abhängigkeit von einem strafenden und belohnenden Vater oder
irgendwelchen Autoritäten beibehält, dann kann er keine reife
Liebe zu Gott entwickeln; dann befindet sich seine Religion
noch in jener früheren Phase, wo Gott als die allbeschützende
Mutter oder als der strafende und belohnende Vater erlebt
wurde.
In der heutigen Religion finden wir noch alle diese Phasen
vor, von der frühesten und primitivsten bis zur höchsten
Entwicklungsstufe. Das Wort »Gott« bezeichnet ebenso den
Stammeshäuptling wie das »absolute Nichts«. Freud hat gezeigt,
daß im Unbewußten eines jeden Menschen seine sämtlichen
Entwicklungsstufen von seiner hilflosen Kindheit an erhalten
sind. Die Frage ist, bis zu welchem Punkt der Mensch in seinem
Wachstum gelangt ist. Eines ist gewiß: Die Art seiner Liebe zu
Gott entspricht der Art seiner Liebe zum Menschen. Außerdem
ist ihm die wahre Qualität seiner Liebe zu Gott und den
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Menschen oft nicht bewußt - sie wird verdeckt und rationalisiert
durch seine reiferen Gedanken darüber, wie seine Liebe
beschaffen sei. Hinzu kommt, daß die Liebe zum Menschen
zwar unmittelbar in seine Beziehungen zur Familie eingebettet
ist, daß sie aber letzten Endes durch die Struktur der
Gesellschaft determiniert ist, in welcher er lebt. Wenn die
Gesellschaftsstruktur durch die Unterwerfung unter eine
Autorität gekennzeichnet ist - unter eine offene Autorität oder
unter die anonyme Autorität des Marktes und der öffentlichen
Meinung -, dann kann seine Gottesvorstellung nur kindlich und
weit entfernt von der reifen Auffassung sein, wie sie in der
Geschichte der monotheistischen Religion im Keim zu finden
ist.