Erotische Liebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Erotische Liebe


Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen; Mutterliebe ist
Liebe zum Hilflosen. So verschieden beide voneinander sind,
ihnen ist doch gemein, daß sie sich ihrem Wesen nach nicht auf
eine einzige Person beschränken. Wenn ich meinen Nächsten
liebe, liebe ich alle meine Nächsten; wenn ich mein Kind liebe,
liebe ich alle meine Kinder, nein, ich liebe sogar darüber hinaus
alle Kinder, alle, die meiner Hilfe bedürfen. Im Gegensatz zu
diesen beiden Arten von Liebe steht die erotische Liebe. Hier
handelt es sich um das Verlangen nach vollkommener
Vereinigung, nach der Einheit mit einer anderen Person. Eben
aus diesem Grund ist die erotische Liebe exklusiv und nicht
universal; aber aus diesem Grund ist sie vielleicht auch die
trügerischste Form der Liebe.
Zunächst einmal wird sie oft mit dem explosiven Erlebnis
»sich zu verlieben« verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der
Schranken, die bis zu diesem Augenblick zwischen zwei
Fremden bestanden. Aber wie bereits dargelegt, ist das Erlebnis
einer plötzlichen Intimität seinem Wesen nach kurzlebig.
Nachdem der Fremde für mich zu einem intimen Bekannten
geworden ist, sind zwischen uns keine Schranken mehr zu
überwinden, und ich brauche mich nicht mehr darum zu
bemühen, ihm näherzukommen. Man lernt den »Geliebten«
ebenso genau kennen wie sich selbst; oder vielleicht sollte man
besser sagen, ebensowenig wie sich selbst. Wenn es mehr Tiefe
in der Erfahrung eines anderen Menschen gäbe, wenn man die
Unbegrenztheit seiner Persönlichkeit erleben könnte, würde
einem der andere nie so vertraut - und das Wunder der
Überwindung der Schranken könnte sich jeden Tag aufs neue
ereignen. Aber für die meisten ist die eigene Person genau wie
die des anderen schnell ergründet und ausgeschöpft. Sie
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erreichen Intimität vor allem durch sexuelle Vereinigung. Da sie
das Getrenntsein von anderen in erster Linie als körperliches
Getrenntsein erfahren, bedeutet die körperliche Vereinigung für
sie die Überwindung des Getrenntseins.
Darüber hinaus gibt es noch andere Faktoren, die viele für die
Überwindung des Abgetrenntseins halten. Man glaubt, man
könne es dadurch überwinden, daß man über sein eigenes
persönliches Leben, seine Hoffnungen und Ängste spricht, daß
man sich dem anderen von seiner kindlichen oder kindischen
Seite zeigt oder daß man sich um ein gemeinsames Interesse an
der Welt bemüht. Selbst dem anderen seinen Ärger, seinen Haß
und seine völlige Hemmungslosigkeit vor Augen zu führen wird
für Intimität gehalten, was die pervertierte Anziehung erklären
mag, welche Ehepartner häufig aufeinander ausüben, die
offenbar nur intim sind, wenn sie zusammen im Bett liegen oder
wenn sie ihrem gegenseitigen Haß und ihrer Wut aufeinander
freien Lauf lassen. Aber alle diese Arten von »Nähe«
verschwinden mit der Zeit mehr und mehr. Die Folge ist, daß
man nun bei einem anderen Menschen, bei einem neuen
Fremden Liebe sucht. Wiederum verwandelt sich der Fremde in
einen Menschen, mit dem man »intim« ist, wiederum wird das
Sichverlieben als ein anregendes, intensives Erlebnis
empfunden, und wiederum flaut es allmählich mehr und mehr ab
und endet mit dem Wunsch nach einer neuen Eroberung, nach
einer neuen Liebe - immer in der Illusion, daß die neue Liebe
ganz anders sein wird als die früheren Liebesbeziehungen. Zu
diesen Illusionen trägt die trügerische Eigenart des sexuellen
Begehrens weitgehend bei.
Die sexuelle Begierde strebt nach Vereinigung und ist
keineswegs nur ein körperliches Verlangen, keineswegs nur die
Lösung einer quälenden Spannung. Aber die sexuelle Begierde
kann auch durch die Angst des Alleinseins, durch den Wunsch,
zu erobern oder sich erobern zu lassen, durch Eitelkeit, durch
den Wunsch, zu verletzen oder sogar zu zerstören, ebenso
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stimuliert werden wie durch Liebe. Es scheint so zu sein, daß die
sexuelle Begierde sich leicht mit allen möglichen starken
Emotionen vermischt und durch diese genauso stimuliert werden
kann wie durch die Liebe. Da das sexuelle Begehren von den
meisten mit der Idee der Liebe in Verbindung gebracht wird,
werden sie leicht zu dem Irrtum verführt, sie liebten einander,
wenn sie sich körperlich begehren. Liebe kann zu dem Wunsch,
führen, sich körperlich zu vereinigen; in diesem Fall ist die
körperliche Beziehung ohne Gier, ohne den Wunsch, zu erobern
oder sich erobern zu lassen, sondern sie ist voll Zärtlichkeit.
Wenn dagegen das Verlangen nach körperlicher Vereinigung
nicht von Liebe stimuliert wird, wenn die erotische Liebe nicht
auch Liebe zum Nächsten ist, dann führt sie niemals zu einer
Einheit, die mehr wäre als eine orgiastische, vorübergehende
Vereinigung. Die sexuelle Anziehung erzeugt für den
Augenblick die Illusion der Einheit, aber ohne Liebe läßt diese
»Vereinigung« Fremde einander ebenso fremd bleiben, wie sie
es vorher waren. Manchmal schämen sie sich dann voreinander,
oder sie hassen sich sogar, weil sie, wenn die Illusion vorüber
ist, ihre Fremdheit nur noch deutlicher empfinden als zuvor. Die
Zärtlichkeit ist keineswegs, wie Freud annahm, eine
Sublimierung des Sexualtriebes, sie ist vielmehr unmittelbarer
Ausdruck der Nächstenliebe und kommt sowohl in körperlichen
wie auch in nichtkörperlichen Formen der Liebe vor.
Die erotische Liebe kennzeichnet eine Ausschließlichkeit, die
der Nächstenliebe und der Mutterliebe fehlt. Dieser exklusive
Charakter der erotischen Liebe bedarf noch einer näheren
Betrachtung. Häufig wird die Exklusivität der erotischen Liebe
mit dem Wunsch verwechselt, vom anderen Besitz zu ergreifen.
Man findet oft zwei »Verliebte«, die niemanden sonst lieben.
Ihre Liebe ist dann in Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit; es
handelt sich dann um zwei Menschen, die sich miteinander
identifizieren und die das Problem des Getrenntseins so lösen,
daß sie das Alleinsein auf zwei Personen erweitern. Sie machen
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dann zwar die Erfahrung, ihre Einsamkeit zu überwinden, aber
da sie von der übrigen Menschheit abgesondert sind, bleiben sie
auch voneinander getrennt und einander fremd; ihr Erlebnis der
Vereinigung ist damit eine Illusion. Erotische Liebe ist zwar
exklusiv, aber sie liebt im anderen die ga nze Menschheit, alles
Lebendige. Sie ist exklusiv nur in dem Sinn, daß ich mich mit
ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen
vereinigen kann. Erotische Liebe schließt die Liebe zu anderen
nur im Sinne einer erotischen Vereinigung, einer vollkommenen
Bindung an den anderen in allen Lebensbereichen aus - aber
nicht im Sinne einer tiefen Liebe zum Nächsten.
Damit es sich um echte Liebe handelt, muß die erotische
Liebe einer Voraussetzung genügen: Ich muß aus meinem
innersten Wesen heraus lieben und den anderen im innersten
Wesen seines Seins erfahren. Ihrem Wesen nach sind alle
Menschen gleich. Wir alle sind Teil des Einen; wir alle sind das
Eine. Deshalb sollte es eigentlich keinen Unterschied machen,
wen ich liebe. Die Liebe sollte im wesentlichen ein Akt des
Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines
anderen Menschen zu binden. Tatsächlich steht diese
Vorstellung hinter der Idee von der Unauflöslichkeit der Ehe
wie auch hinter den vielen Formen der traditionellen Ehe, wo
die beiden Partner sich nicht selbst wählen, sondern füreinander
ausgesucht werden - und wo man trotzdem von ihnen erwartet,
daß sie einander lieben. In unserer gegenwärtigen westlichen
Kultur scheint uns diese Idee völlig abwegig. Wir halten die
Liebe für das Resultat einer spontanen emotionalen Reaktion, in
der wir plötzlich von einem unwiderstehlichen Gefühl erfaßt
werden. Bei dieser Auffassung berücksichtigt man nur die
Besonderheiten der beiden Betroffenen und nicht die Tatsache,
daß alle Männer ein Teil Adams und alle Frauen ein Teil Evas
sind. Man übersieht einen wesentlichen Faktor in der erotischen
Liebe - den Willen. Jemanden zu lieben ist nicht nur ein starkes
Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein
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Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht
die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu
lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden.
Wie kann ich behaupten, die Liebe werde ewig dauern, wenn
nicht mein Urteilsvermögen und meine Entschlußkraft beteiligt
sind?
Von diesem Standpunkt aus könnte man die Meinung
vertreten, Liebe sei ausschließlich ein Akt der willensmäßigen
Bindung an einen anderen, und es komme daher im Grunde
nicht darauf an, wer die beiden Personen seien. Ob die Ehe von
anderen arrangiert wurde oder das Ergebnis einer individuellen
Wahl war: nachdem sie einmal geschlossen ist, sollte dieser Akt
den Fortbestand der Liebe garantieren. Diese Auffassung
übersieht jedoch ganz offensichtlich die paradoxe Eigenart der
menschlichen Natur und der erotischen Liebe. Wir alle sind eins
- und trotzdem ist jeder von uns ein einzigartiges, nicht
wiederholbares Wesen. In unserer Beziehung zu anderen
wiederholt sich das gleiche Paradoxon. Insofern wir alle eins
sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne der
Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir auch alle voneinander
verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische,
höchst individuelle Elemente voraus, wie sie nur zwischen
gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu finden
sind.
So sind beide Auffassungen richtig, die Ansicht, daß die
erotische Liebe eine völlig individuelle Anziehung, etwas
Einzigartiges zwischen zwei bestimmten Personen ist, wie auch
die andere Meinung, daß sie nichts ist als ein reiner Willensakt.
Vielleicht sollte man besser sagen, daß die Wahrheit weder in
der einen noch in der anderen Auffassung zu finden ist. Daher
ist auch die Idee, man könne eine Verbindung ohne weiteres
wieder lösen, wenn sie sich als nicht erfolgreich herausstellt,
ebenso irrig wie die Ansicht, daß man eine Verbindung unter
keinen Umständen wieder lösen dürfe.
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