Nächstenliebe
Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und »Erkenntnis«, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern. Es ist jene Art der Liebe, von der die Bibel spricht, wenn sie sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (Lev 19,18). Nächstenliebe ist Liebe zu allen menschlichen Wesen. Es ist geradezu kennzeichnend für sie, daß sie niemals exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu lieben entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen Nächsten zu lieben. Die Nächstenliebe enthält die Erfahrung der Einheit mit allen Menschen, der menschlichen Solidarität, des menschlichen Einswerdens. Die Nächstenliebe gründet sich auf die Erfahrung, daß wir alle eins sind. Die Unterschiede von Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen gemeinsam ist. Um diese Identität zu erleben, muß man von der Oberfläche zum Kern vordringen. Wenn ich bei einem anderen Menschen hauptsächlich das Äußere sehe, dann nehme ich nur die Unterschiede wahr, das, was uns trennt; dringe ich aber bis zum Kern vor, so nehme ich unsere Identität wahr, ich merke dann, daß wir Brüder sind. Diese Bezogenheit von einem Kern zum anderen, anstatt von Oberfläche zu Oberfläche, ist eine Bezogenheit aus der Mitte (central relatedness). Simone Weil drückt dies besonders schön aus, wenn sie bezüglich des Bekenntnisses »Ich liebe dich«, das ein Mann zu seiner Frau spricht, bemerkt: »Die gleichen Worte können je nach der Art, wie sie gesprochen werden, nichtssagend sein oder etwas ganz Außergewöhnliches bedeuten. Die Art, wie sie gesagt werden, hängt von der Tiefenschicht ab, aus der sie beim Betreffenden stammen und auf die der Wille keinen Einfluß hat. Durch eine -58- ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung erreichen sie in dem, der sie hört, genau die gleiche Tiefenschicht. So kann der Hörer erkennen, was die Worte wert sind, sofern er hierfür überhaupt ein Unterscheidungsvermögen besitzt.« (S. Weil, 1952, S. 117) Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen. Aber selbst die, die uns gleichen, sind nicht einfach uns »gleich«. Insofern wir Menschen sind, sind wir auf Hilfe angewiesen - heute ich, morgen du. Aber dieses Angewiesensein auf Hilfe heißt nicht, daß der eine hilflos und der andere mächtig ist. Hilflosigkeit ist ein vorübergehender Zustand; die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und zu laufen, ist dagegen der bleibende, allen gemeinsame Zustand. Demnach ist die Liebe zum Hilflosen, die Liebe zum Armen und zum Fremden der Anfang der Nächstenliebe. Sein eigenes Fleisch und Blut zu lieben, ist kein besonderes Verdienst. Auch ein Tier liebt seine Jungen und sorgt für sie. Der Hilflose liebt seinen Herrn, weil sein Leben von ihm abhängt; das Kind liebt seine Eltern, weil es sie braucht. Erst in der Liebe zu denen, die für uns keinen Zweck erfüllen, beginnt die Liebe sich zu entfalten. Bezeichnenderweise bezieht sich im Alten Testament die Liebe des Menschen hauptsächlich auf Arme, Fremde, Witwen, Waisen und schließlich sogar auf die Nationalfeinde, die Ägypter und die Edomiter. Dadurch, daß der Mensch mit den Hilflosen Mitleid hat, entwickelt sich in ihm allmählich die Liebe zu seinem Nächsten; und in seiner Liebe zu sich selbst liebt er auch den Hilfsbedürftigen, den Gebrechlichen und den, dem die Sicherheit fehlt. Zum Mitleid gehören »Erkenntnis« und die Fähigkeit, sich mit den anderen identifizieren zu können. »Wenn sich ein Fremder in eurem Land aufhä lt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Er soll bei euch wie ein Einheimischer sein, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.« (Lev 19,33; - die gleiche Vorstellung wie im Alten Testament findet sich auch bei H. -59- Cohen, 1929, S. 167 ff.)
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