Nächstenliebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Nächstenliebe


Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen
zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein
Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und
»Erkenntnis«, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den
Wunsch, dessen Leben zu fördern. Es ist jene Art der Liebe, von
der die Bibel spricht, wenn sie sagt: »Liebe deinen Nächsten wie
dich selbst« (Lev 19,18). Nächstenliebe ist Liebe zu allen
menschlichen Wesen. Es ist geradezu kennzeichnend für sie,
daß sie niemals exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu
lieben entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen
Nächsten zu lieben. Die Nächstenliebe enthält die Erfahrung der
Einheit mit allen Menschen, der menschlichen Solidarität, des
menschlichen Einswerdens. Die Nächstenliebe gründet sich auf
die Erfahrung, daß wir alle eins sind. Die Unterschiede von
Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im
Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen
gemeinsam ist. Um diese Identität zu erleben, muß man von der
Oberfläche zum Kern vordringen. Wenn ich bei einem anderen
Menschen hauptsächlich das Äußere sehe, dann nehme ich nur
die Unterschiede wahr, das, was uns trennt; dringe ich aber bis
zum Kern vor, so nehme ich unsere Identität wahr, ich merke
dann, daß wir Brüder sind. Diese Bezogenheit von einem Kern
zum anderen, anstatt von Oberfläche zu Oberfläche, ist eine
Bezogenheit aus der Mitte (central relatedness). Simone Weil
drückt dies besonders schön aus, wenn sie bezüglich des
Bekenntnisses »Ich liebe dich«, das ein Mann zu seiner Frau
spricht, bemerkt: »Die gleichen Worte können je nach der Art,
wie sie gesprochen werden, nichtssagend sein oder etwas ganz
Außergewöhnliches bedeuten. Die Art, wie sie gesagt werden,
hängt von der Tiefenschicht ab, aus der sie beim Betreffenden
stammen und auf die der Wille keinen Einfluß hat. Durch eine
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ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung erreichen sie in
dem, der sie hört, genau die gleiche Tiefenschicht. So kann der
Hörer erkennen, was die Worte wert sind, sofern er hierfür
überhaupt ein Unterscheidungsvermögen besitzt.« (S. Weil,
1952, S. 117)
Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen. Aber selbst die,
die uns gleichen, sind nicht einfach uns »gleich«. Insofern wir
Menschen sind, sind wir auf Hilfe angewiesen - heute ich,
morgen du. Aber dieses Angewiesensein auf Hilfe heißt nicht,
daß der eine hilflos und der andere mächtig ist. Hilflosigkeit ist
ein vorübergehender Zustand; die Fähigkeit, auf eigenen Füßen
zu stehen und zu laufen, ist dagegen der bleibende, allen
gemeinsame Zustand.
Demnach ist die Liebe zum Hilflosen, die Liebe zum Armen
und zum Fremden der Anfang der Nächstenliebe. Sein eigenes
Fleisch und Blut zu lieben, ist kein besonderes Verdienst. Auch
ein Tier liebt seine Jungen und sorgt für sie. Der Hilflose liebt
seinen Herrn, weil sein Leben von ihm abhängt; das Kind liebt
seine Eltern, weil es sie braucht. Erst in der Liebe zu denen, die
für uns keinen Zweck erfüllen, beginnt die Liebe sich zu
entfalten. Bezeichnenderweise bezieht sich im Alten Testament
die Liebe des Menschen hauptsächlich auf Arme, Fremde,
Witwen, Waisen und schließlich sogar auf die Nationalfeinde,
die Ägypter und die Edomiter. Dadurch, daß der Mensch mit
den Hilflosen Mitleid hat, entwickelt sich in ihm allmählich die
Liebe zu seinem Nächsten; und in seiner Liebe zu sich selbst
liebt er auch den Hilfsbedürftigen, den Gebrechlichen und den,
dem die Sicherheit fehlt. Zum Mitleid gehören »Erkenntnis« und
die Fähigkeit, sich mit den anderen identifizieren zu können.
»Wenn sich ein Fremder in eurem Land aufhä lt, sollt ihr ihn
nicht unterdrücken. Er soll bei euch wie ein Einheimischer sein,
und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst
Fremde in Ägypten gewesen.« (Lev 19,33; - die gleiche
Vorstellung wie im Alten Testament findet sich auch bei H.
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Cohen, 1929, S. 167 ff.)