Mütterliche Liebe
Mit dem Wesen der mütterlichen Liebe haben wir uns bereits in einem früheren Kapitel beschäftigt, als wir den Unterschied zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe behandelten. Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des Kindes. Aber hier ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Die Bejahung des Lebens des Kindes hat zwei Aspekte: der eine besteht in der Fürsorge und dem Verantwortungsgefühl, die zur Erhaltung und Entfaltung des Lebens des Kindes unbedingt notwendig sind. Der andere Aspekt geht über die bloße Lebenserhaltung hinaus. Es ist die Haltung, die dem Kind jene Liebe zum Leben vermittelt, die ihm das Gefühl gibt: Es ist gut zu leben, es ist gut, ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen zu sein; es ist gut, auf dieser Welt zu sein! Diese beiden Aspekte der mütterlichen Liebe kommen in der biblischen Schöpfungsgeschichte prägnant zum Ausdruck. Gott erschafft die Welt, und er erschafft den Menschen. Dies entspricht der einfachen Fürsorge für das Geschaffene und seiner Bejahung. Aber Gott geht über dieses notwendige Minimum hinaus. An jedem Tag der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er geschaffen hat: »Es ist gut!« Diese besondere Bestätigung gibt in der mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: »Es ist gut, geboren worden zu sein.« Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum Leben und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben. Der gleiche Gedanke dürfte auch in einem anderen biblischen Symbol zum Ausdruck kommen. Das gelobte Land (Land ist stets ein Muttersymbol) wird beschrieben als »ein Land, wo Milch und Honig fließen«. Die Milch ist das Symbol des ersten Aspekts der Liebe, dem der Fürsorge und Bestätigung. Der Honig symbolisiert die Süßigkeit des Lebens, die Liebe zum Leben und das Glück zu leben. Die meisten Menschen sind fähig, »Milch« -61- zu geben, aber nur eine Minderzahl unter ihnen kann auch »Honig« spenden. Um Honig spenden zu können, muß die Mutter nicht nur eine »gute Mutter« sein, sie muß auch ein glücklicher Mensch sein - ein Ziel, das nur wenige erreichen. Die Wirkung auf das Kind kann man kaum zu hoch einschätzen. Die Liebe der Mutter zum Leben ist ebenso ansteckend wie ihre Angst. Beide Einstellungen haben einen tiefen Eindruck auf die gesamte Persönlichkeit des Kindes. Tatsächlich kann man bei Kindern und bei Erwachsenen jene, welche nur »Milch« bekommen haben, deutlich von denen unterscheiden, die »Milch und Honig« erhielten. Im Gegensatz zur Nächstenliebe und zur erotischen Liebe, die beide eine Liebe zwischen Gleichen sind, ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind ihrer Natur nach eine Ungleichheits- Beziehung, bei welcher der eine Teil alle Hilfe braucht und der andere sie gibt. Wegen dieses altruistischen, selbstlosen Charakters gilt die Mutterliebe als die höchste Art der Liebe und als heiligste aller emotionalen Bindungen. Mir scheint jedoch, daß die Mutterliebe nicht in der Liebe zum Säugling, sondern in der Liebe zum heranwachsenden Kind ihre eigentliche Leistung vollbringt. Tatsächlich sind ja die allermeisten Mütter nur so lange liebevolle Mütter, wie ihr Kind noch klein und völlig von ihnen abhängig ist. Die meisten Frauen wünschen sich Kinder, sie sind glücklich über das Neugeborene und widmen sich eifrig seiner Pflege. Das ist so, obwohl sie vom Kind nichts dafür »zurückbekommen« außer einem Lächeln oder dem Ausdruck von Zufriedenheit auf seinem Gesicht. Es scheint, daß diese Art der Liebe, die man ebenso beim Tier wie bei der menschlichen Mutter findet, teilweise instinktbedingt ist. Aber wie stark dieser instinktive Faktor auch ins Gewicht fallen mag, es spielen daneben auch noch spezifisch menschliche, psychische Faktoren eine Rolle. Einer beruht auf dem narzißtischen Element in der mütterlichen Liebe. Insofern die Mutter noch immer das Gefühl hat, daß der Säugling ein Teil ihrer selbst ist, kann es sein, daß -62- sie mit ihrer überschwenglichen Liebe zu ihm ihren eigenen Narzißmus befriedigt. Eine andere Motivation könnte ihr Streben nach Macht oder Besitz sein. Da das Kind hilflos und ihrem Willen unterworfen ist, ist es für eine tyrannische und besitzgierige Frau ein natürliches Objekt ihrer eigenen Befriedigung. So häufig diese Motivierungen sind, so dürften sie doch eine weniger wichtige und universale Rolle spielen als etwas anderes, das man als das Bedürfnis nach Transzendenz bezeichnen könnte. Dieses Bedürfnis nach Transzendenz ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen, das seine Wurzel in der Tatsache hat, daß er sich seiner selbst bewußt ist, daß er sich mit seiner Rolle als Kreatur nicht begnügt, daß er es nicht hinnehmen kann, wie ein Würfel aus dem Becher geworfen zu sein. Er muß sich als Schöpfer fühlen, der die passive Rolle eines bloßen Geschöpfs transzendiert. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Befriedigung des Schöpferischen zu erreichen; der natürlichste und einfachste Weg ist die Liebe und Fürsorge der Mutter zu dem, was sie als Mutter hervorgebracht hat. Sie transzendiert sich selbst in ihrem Kind; ihre Liebe zu ihm verleiht ihrem Leben Bedeutung. (In der Unfähigkeit des Mannes, sein Bedürfnis nach Transzendenz durch das Gebären eines Kindes zu befriedigen, ist sein Drang begründet, sich selbst dadurch zu transzendieren, daß er selbstgeschaffene Dinge und Ideen hervorbringt.) Aber das Kind muß wachsen. Es muß den Mutterleib verlassen, sich von der Mutterbrust lösen; es muß schließlich zu einem völlig unabhängigen menschlichen Wesen werden. Wahre Mutterliebe besteht darin, für das Wachstum des Kindes zu sorgen, und das bedeutet, daß sie selbst wünscht, daß das Kind von ihr loskommt. Hierin unterscheidet sich diese Liebe grundsätzlich von der erotischen Liebe. Bei der erotischen Liebe werden zwei Menschen, die getrennt waren, eins. Bei der Mutterliebe trennen sich zwei Menschen voneinander, die eins -63- waren. Die Mutter muß nicht nur die Loslösung des Kindes dulden, sie muß sie sogar wünschen und fördern. Erst in diesem Stadium wird die Mutterliebe zu einer so schweren Aufgabe, die Selbstlosigkeit verlangt und die Fähigkeit fordert, alles geben zu können und nichts zu wollen als das Glück des geliebten Kindes. Auf dieser Stufe kommt es auch häufig vor, daß Mütter bei der Aufgabe, die ihnen ihre mütterliche Liebe stellt, versagen. Einer narzißtischen, herrschsüchtigen, auf Besitz bedachten Frau kann es zwar gelingen, eine »liebende« Mutter zu sein, solange ihr Kind noch klein ist. Aber nur die wahrhaft liebende Frau, die Frau, die im Geben glücklicher ist als im Nehmen und die in ihrer eigenen Existenz fest verwurzelt ist, kann auch dann noch eine liebende Mutter sein, wenn das Kind sich im Prozeß der Trennung von ihr befindet. Die Mutterliebe zum heranwachsenden Kind, jene Liebe, die nichts für sich will, ist vielleicht die schwierigste Form der Liebe; und sie ist sehr trügerisch, weil es für eine Mutter so leicht ist, ihr kleines Kind zu lieben. Aber gerade weil es später so schwer ist, kann eine Frau nur dann eine wahrhaft liebende Mutter sein, wenn sie überhaupt zu lieben versteht und wenn sie fähig ist, ihren Mann, andere Kinder, Fremde, kurz alle menschlichen Wesen zu lieben. Eine Frau, die nicht fähig ist, in diesem Sinn zu lieben, kann zwar, solange ihr Kind noch klein ist, eine fürsorgende Mutter sein, aber sie ist keine wahrhaft liebende Mutter. Die Probe darauf ist ihre Bereitschaft, die Trennung zu ertragen und auch nach der Trennung noch weiter zu lieben.
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