Mütterliche Liebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Mütterliche Liebe


Mit dem Wesen der mütterlichen Liebe haben wir uns bereits
in einem früheren Kapitel beschäftigt, als wir den Unterschied
zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe
behandelten. Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die
bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des
Kindes. Aber hier ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Die
Bejahung des Lebens des Kindes hat zwei Aspekte: der eine
besteht in der Fürsorge und dem Verantwortungsgefühl, die zur
Erhaltung und Entfaltung des Lebens des Kindes unbedingt
notwendig sind. Der andere Aspekt geht über die bloße
Lebenserhaltung hinaus. Es ist die Haltung, die dem Kind jene
Liebe zum Leben vermittelt, die ihm das Gefühl gibt: Es ist gut
zu leben, es ist gut, ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen
zu sein; es ist gut, auf dieser Welt zu sein! Diese beiden Aspekte
der mütterlichen Liebe kommen in der biblischen Schöpfungsgeschichte
prägnant zum Ausdruck. Gott erschafft die Welt, und
er erschafft den Menschen. Dies entspricht der einfachen
Fürsorge für das Geschaffene und seiner Bejahung. Aber Gott
geht über dieses notwendige Minimum hinaus. An jedem Tag
der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er geschaffen hat:
»Es ist gut!« Diese besondere Bestätigung gibt in der
mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: »Es ist gut, geboren
worden zu sein.« Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum Leben
und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben. Der gleiche
Gedanke dürfte auch in einem anderen biblischen Symbol zum
Ausdruck kommen. Das gelobte Land (Land ist stets ein
Muttersymbol) wird beschrieben als »ein Land, wo Milch und
Honig fließen«. Die Milch ist das Symbol des ersten Aspekts der
Liebe, dem der Fürsorge und Bestätigung. Der Honig
symbolisiert die Süßigkeit des Lebens, die Liebe zum Leben und
das Glück zu leben. Die meisten Menschen sind fähig, »Milch«
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zu geben, aber nur eine Minderzahl unter ihnen kann auch
»Honig« spenden. Um Honig spenden zu können, muß die
Mutter nicht nur eine »gute Mutter« sein, sie muß auch ein
glücklicher Mensch sein - ein Ziel, das nur wenige erreichen.
Die Wirkung auf das Kind kann man kaum zu hoch einschätzen.
Die Liebe der Mutter zum Leben ist ebenso ansteckend wie ihre
Angst. Beide Einstellungen haben einen tiefen Eindruck auf die
gesamte Persönlichkeit des Kindes. Tatsächlich kann man bei
Kindern und bei Erwachsenen jene, welche nur »Milch«
bekommen haben, deutlich von denen unterscheiden, die »Milch
und Honig« erhielten.
Im Gegensatz zur Nächstenliebe und zur erotischen Liebe, die
beide eine Liebe zwischen Gleichen sind, ist die Beziehung
zwischen Mutter und Kind ihrer Natur nach eine Ungleichheits-
Beziehung, bei welcher der eine Teil alle Hilfe braucht und der
andere sie gibt. Wegen dieses altruistischen, selbstlosen
Charakters gilt die Mutterliebe als die höchste Art der Liebe und
als heiligste aller emotionalen Bindungen. Mir scheint jedoch,
daß die Mutterliebe nicht in der Liebe zum Säugling, sondern in
der Liebe zum heranwachsenden Kind ihre eigentliche Leistung
vollbringt. Tatsächlich sind ja die allermeisten Mütter nur so
lange liebevolle Mütter, wie ihr Kind noch klein und völlig von
ihnen abhängig ist. Die meisten Frauen wünschen sich Kinder,
sie sind glücklich über das Neugeborene und widmen sich eifrig
seiner Pflege. Das ist so, obwohl sie vom Kind nichts dafür
»zurückbekommen« außer einem Lächeln oder dem Ausdruck
von Zufriedenheit auf seinem Gesicht. Es scheint, daß diese Art
der Liebe, die man ebenso beim Tier wie bei der menschlichen
Mutter findet, teilweise instinktbedingt ist. Aber wie stark dieser
instinktive Faktor auch ins Gewicht fallen mag, es spielen
daneben auch noch spezifisch menschliche, psychische Faktoren
eine Rolle. Einer beruht auf dem narzißtischen Element in der
mütterlichen Liebe. Insofern die Mutter noch immer das Gefühl
hat, daß der Säugling ein Teil ihrer selbst ist, kann es sein, daß
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sie mit ihrer überschwenglichen Liebe zu ihm ihren eigenen
Narzißmus befriedigt. Eine andere Motivation könnte ihr
Streben nach Macht oder Besitz sein. Da das Kind hilflos und
ihrem Willen unterworfen ist, ist es für eine tyrannische und
besitzgierige Frau ein natürliches Objekt ihrer eigenen
Befriedigung.
So häufig diese Motivierungen sind, so dürften sie doch eine
weniger wichtige und universale Rolle spielen als etwas anderes,
das man als das Bedürfnis nach Transzendenz bezeichnen
könnte. Dieses Bedürfnis nach Transzendenz ist eines der
Grundbedürfnisse des Menschen, das seine Wurzel in der
Tatsache hat, daß er sich seiner selbst bewußt ist, daß er sich mit
seiner Rolle als Kreatur nicht begnügt, daß er es nicht
hinnehmen kann, wie ein Würfel aus dem Becher geworfen zu
sein. Er muß sich als Schöpfer fühlen, der die passive Rolle
eines bloßen Geschöpfs transzendiert. Es gibt viele
Möglichkeiten, diese Befriedigung des Schöpferischen zu
erreichen; der natürlichste und einfachste Weg ist die Liebe und
Fürsorge der Mutter zu dem, was sie als Mutter hervorgebracht
hat. Sie transzendiert sich selbst in ihrem Kind; ihre Liebe zu
ihm verleiht ihrem Leben Bedeutung. (In der Unfähigkeit des
Mannes, sein Bedürfnis nach Transzendenz durch das Gebären
eines Kindes zu befriedigen, ist sein Drang begründet, sich
selbst dadurch zu transzendieren, daß er selbstgeschaffene
Dinge und Ideen hervorbringt.)
Aber das Kind muß wachsen. Es muß den Mutterleib
verlassen, sich von der Mutterbrust lösen; es muß schließlich zu
einem völlig unabhängigen menschlichen Wesen werden. Wahre
Mutterliebe besteht darin, für das Wachstum des Kindes zu
sorgen, und das bedeutet, daß sie selbst wünscht, daß das Kind
von ihr loskommt. Hierin unterscheidet sich diese Liebe
grundsätzlich von der erotischen Liebe. Bei der erotischen Liebe
werden zwei Menschen, die getrennt waren, eins. Bei der
Mutterliebe trennen sich zwei Menschen voneinander, die eins
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waren. Die Mutter muß nicht nur die Loslösung des Kindes
dulden, sie muß sie sogar wünschen und fördern. Erst in diesem
Stadium wird die Mutterliebe zu einer so schweren Aufgabe, die
Selbstlosigkeit verlangt und die Fähigkeit fordert, alles geben zu
können und nichts zu wollen als das Glück des geliebten Kindes.
Auf dieser Stufe kommt es auch häufig vor, daß Mütter bei der
Aufgabe, die ihnen ihre mütterliche Liebe stellt, versagen. Einer
narzißtischen, herrschsüchtigen, auf Besitz bedachten Frau kann
es zwar gelingen, eine »liebende« Mutter zu sein, solange ihr
Kind noch klein ist. Aber nur die wahrhaft liebende Frau, die
Frau, die im Geben glücklicher ist als im Nehmen und die in
ihrer eigenen Existenz fest verwurzelt ist, kann auch dann noch
eine liebende Mutter sein, wenn das Kind sich im Prozeß der
Trennung von ihr befindet.
Die Mutterliebe zum heranwachsenden Kind, jene Liebe, die
nichts für sich will, ist vielleicht die schwierigste Form der
Liebe; und sie ist sehr trügerisch, weil es für eine Mutter so
leicht ist, ihr kleines Kind zu lieben. Aber gerade weil es später
so schwer ist, kann eine Frau nur dann eine wahrhaft liebende
Mutter sein, wenn sie überhaupt zu lieben versteht und wenn sie
fähig ist, ihren Mann, andere Kinder, Fremde, kurz alle
menschlichen Wesen zu lieben. Eine Frau, die nicht fähig ist, in
diesem Sinn zu lieben, kann zwar, solange ihr Kind noch klein
ist, eine fürsorgende Mutter sein, aber sie ist keine wahrhaft
liebende Mutter. Die Probe darauf ist ihre Bereitschaft, die
Trennung zu ertragen und auch nach der Trennung noch weiter
zu lieben.