Liebe zwischen Eltern und Kindern

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Liebe zwischen Eltern und Kind


Das Kind hätte bereits im Augenblick seiner Geburt Angst zu
sterben, wenn ein gnädiges Schicksal es nicht davor bewahrte,
sich der Angst bewußt zu werden, welche mit der Trennung von
der Mutter und von seiner Existenz im Mutterleib verbunden ist.
Selbst nach der Geburt unterscheidet sich das Kind kaum von
dem, was es vor der Geburt war; es kann noch keinen
Gegenstand erkennen, es ist sich seiner selbst und der Welt als
etwas außerhalb von ihm Liegendes noch nicht bewußt. Es fühlt
lediglich den positiven Eindruck von Wärme und Nahrung, doch
es unterscheidet diese Wärme und Nahrung noch nicht von
deren Quelle, der Mutter. Die Mutter ist Wärme, die Mutter ist
Nahrung, die Mutter ist der euphorische Zustand von
Befriedigung und Sicherheit. Es ist dies ein narzißtischer
Zustand, um Freuds Begriff zu gebrauchen. Die äußere Realität,
Personen wie Dinge, sind nur insofern von Bedeutung, als sie
für den inneren Zustand des Körpers eine Befriedigung oder
Versagung bedeuten. Real ist nur das, was im Inneren vorgeht;
alles außerhalb Befindliche besitzt nur in bezug auf die eigenen
Bedürfnisse Realität - niemals jedoch in bezug auf die
objektiven Eigenschaften oder Bedürfnisse.
In dem Maße, wie das Kind weiter wächst und sich
entwickelt, erlangt es die Fähigkeit, Dinge so wahrzunehmen,
wie sie sind. Es unterscheidet jetzt die Befriedigung, gefüttert zu
werden, von der Brust der Mutter. Schließlich erlebt es dann
seinen Hunger und dessen Stillung durch die Milch, die Brust
und die Mutter als verschiedene Dinge. Es lernt auch viele
andere Dinge voneinander zu unterscheiden und merkt, daß sie
eine eigene Existenz besitzen. Jetzt lernt es auch, sie beim
Namen zu nennen und mit ihnen umzugehen. Es lernt, daß Feuer
heiß ist und weh tut, daß der Körper der Mutter warm ist und
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wohl tut, daß Holz hart und schwer und daß Papier leicht ist und
daß man es zerreißen kann. Es lernt auch mit Menschen
umzugehen; es lernt, daß die Mutter lächelt, wenn es ißt, daß sie
es auf den Arm nimmt, wenn es weint, daß sie es lobt, wenn es
sein Geschäft verrichtet. Alle diese Erfahrungen kristallisieren
sich und gehen ein in die Erfahrung: Ich werde geliebt. Ich
werde geliebt, weil ich hilflos bin, ich werde geliebt, weil ich
schön und bewundernswert bin, ich werde geliebt, weil Mutter
mich braucht. Allgemeiner ausgedrückt heißt das: Ich werde
geliebt, weil ich das bin, was ich bin, oder vielleicht noch
präziser: Ich werde geliebt, weil ich bin. Diese Erfahrung, von
der Mutter geliebt zu werden, ist ihrem Wesen nach passiv. Ich
brauche nichts dazu zu tun, um geliebt zu werden, Mutterliebe
ist keinen Bedingungen unterworfen. Alles, was ich tun muß, ist
zu sein, ihr Kind zu sein. Die Liebe der Mutter bedeutet
Seligkeit, sie bedeutet Frieden, man braucht sie nicht erst zu
erwerben, man braucht sie sich nicht zu verdienen. Aber diese
Bedingungslosigkeit der Mutterliebe hat auch ihre negative
Seite. Sie braucht nicht nur nicht verdient zu werden - sie kann
auch nicht erworben, erzeugt oder unter Kontrolle gehalten
werden. Ist sie vorhanden, so ist sie ein Segen; ist sie nicht
vorhanden, so ist es, als ob alle Schönheit aus dem Leben
verschwunden wäre, und ich kann nichts tun, um sie
hervorzurufen.
Für die meisten Kinder unter achteinhalb bis zehn Jahren
besteht das Problem fast ausschließlich darin, geliebt zu werden
- und zwar dafür geliebt zu werden, daß man so ist, wie man ist.
(Vgl. H. S. Sullivan, 1953.) Bis zu diesem Alter liebt das Kind
selbst noch nicht; es reagiert nur dankbar und fröhlich darauf,
daß es geliebt wird. An diesem Punkt der kindlichen
Entwicklung kommt ein neuer Faktor hinzu: das neue Gefühl,
daß man durch die eigene Aktivität Liebe wecken kann. Zum
erstenmal kommt das Kind auf den Gedanken, daß es der Mutter
(oder dem Vater) etwas geben kann, daß es etwas selbst schaffen
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kann - ein Gedicht, eine Zeichnung oder was immer es sein mag.
Zum erstenmal im Leben des Kindes verwandelt sich die
Vorstellung von Liebe. Geliebtwerden wird zum Lieben, zum
Erwecken von Liebe. Von diesem ersten Anfang bis zum Reifen
der Liebe sind viele Jahre nötig. Schließlich hat das Kind, das
inzwischen ein Jugendlicher sein mag, seine Ichbezogenheit
überwunden; der andere ist jetzt nicht mehr in erster Linie ein
Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Die
Bedürfnisse des anderen werden ebenso wichtig wie die eigenen
ja tatsächlich noch wichtiger als diese. Geben ist befriedigender,
freudvoller geworden als Empfangen; Lieben ist wichtiger
geworden als Geliebtwerden. Dadurch, daß der junge Mensch
liebt, ist er aus der Gefängniszelle seines Alleinseins und seiner
Isolierung herausgelangt, die durch seinen Narzißmus und seine
Ichbezogenheit bedingt waren. Er erlebt ein neues Gefühl der
Einheit, des Teilens und des Einsseins. Was noch wichtiger ist,
er spürt in sich das Vermögen, Liebe durch Lieben zu wecken
und nicht mehr abhängig davon zu sein, geliebt zu werden und
aus diesem Grund klein, hilflos und krank - oder »brav« bleiben
zu müssen. Infantile Liebe folgt dem Prinzip: »Ich liebe, weil
ich geliebt werde.« Reife Liebe folgt dem Prinzip: »Ich werde
geliebt, weil ich liebe.« Unreife Liebe sagt: »Ich liebe dich, weil
ich dich brauche.« Reife Liebe sagt: »Ich brauche dich, weil ich
dich liebe.«
In engem Zusammenhang mit der Entwicklung der
Liebesfähigkeit steht die Entwicklung der Liebesobjekte. In den
ersten Monaten und Jahren ist das Kind seiner Mutter am
engsten verbunden. Diese Bindung beginnt schon vor dem
Augenblick der Geburt, wo Mutter und Kind noch eins sind,
wenngleich sie zwei sind. Die Geburt ändert die Situation in
gewisser Hinsicht, jedoch nicht so drastisch, wie es zunächst
scheinen mag. Obwohl das Kind jetzt außerhalb des
Mutterleibes lebt, ist es doch von der Mutter noch völlig
abhängig. Aber es wird jetzt täglich unabhängiger: Es lernt
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selbständig zu laufen, zu sprechen und die Welt zu erforschen;
die Beziehung zur Mutter verliert einiges von ihrer vitalen
Bedeutung, und statt dessen wird die Beziehung zum Vater
immer wichtiger.
Um dieses Hinüberwechseln von der Mutter zum Vater zu
verstehen, müssen wir uns die wesentlichen qualitativen
Unterschiede zwischen mütterlicher und väterlicher Liebe vor
Augen halten. Über die Mutterliebe haben wir bereits
gesprochen. Mutterliebe ist ihrem Wesen nach an keine
Bedingungen geknüpft. Eine Mutter liebt ihr neugeborenes
Kind, allein weil es ihr Kind ist und nicht weil es bestimmten
Voraussetzungen entspricht oder bestimmte Erwartungen erfüllt.
(Wenn ich hier von der Liebe der Mutter und des Vaters
spreche, so spreche ich natürlich von »Idealtypen« im Sinn Max
Webers oder von Archetypen im Jungschen Sinn und behaupte
damit nicht, daß jede Mutter und jeder Vater auf diese Weise
liebt. Ich meine damit das mütterliche und väterliche Prinzip,
das sich in einer mütterlichen oder väterlichen Person zeigt.)
Eine Liebe, die an keine Bedingungen geknüpft ist, entspricht
einer tiefen Sehnsucht nicht nur des Kindes, sondern eines jeden
menschlichen Wesens; wenn man dagegen seiner eigenen
Verdienste wegen geliebt wird, so bleiben immer irgendwelche
Zweifel bestehen; vielleicht habe ich es dem, der mich lieben
soll, nicht recht gemacht, oder ich habe dies oder jenes falsch
gemacht - immer muß ich fürchten, die Liebe könnte vergehen.
Außerdem hinterläßt »verdiente« Liebe leicht das bittere Gefühl,
daß man nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern daß
man nur geliebt wird, weil man dem anderen einen Gefallen tut,
daß man letzten Endes gar nicht geliebt, sondern zu einem
bestimmten Zweck benutzt wird. Kein Wunder also, daß wir alle
- als Kinder und als Erwachsene - an unserer Sehnsucht nach der
mütterlichen Liebe festhalten. Die meisten Kinder haben das
Glück, Mutterliebe zu empfangen. (Wir werden später noch
darauf zurückkommen, in welchem Ausmaß das jeweils der Fall
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ist.) Beim Erwachsenen ist die gleiche Sehnsucht weit
schwieriger zu erfüllen. Am befriedigendsten verläuft die
Entwicklung, wenn die Mutterliebe eine Komponente der
normalen erotischen Liebe bleibt; oft findet sie ihren Ausdruck
in religiösen, noch häufiger in neurotischen Formen.
Die Beziehung zum Vater ist ganz anderer Art. Die Mutter ist
die Heimat, aus der wir kommen, sie ist die Natur, die Erde, das
Meer. Der Vater dagegen verkörpert keine solche natürliche
Heimat. In den ersten Lebensjahren des Kindes hat er nur wenig
Verbindung mit ihm, und seine Bedeutung für das Kind läßt sich
in dieser frühen Periode nicht mit der der Mutter vergleichen.
Aber während der Vater die natürliche Welt nicht repräsentiert,
verkörpert er den anderen Pol der menschlichen Existenz: die
Welt des Denkens, die Welt der vom Menschen geschaffenen
Dinge, Gesetz, Ordnung und Disziplin, und die Welt der Reisen
und Abenteuer. Der Vater ist derjenige, der das Kind lehrt, der
ihm den Weg in die Welt weist.
Eng verbunden mit dieser Funktion ist eine andere, die mit der
sozioökonomischen Entwicklung zusammenhängt. Als das
Privateigentum aufkam und dieses Privateigentum von einem
der Söhne ererbt werden konnte, fing der Vater an, sich nach
dem Sohn umzusehen, dem er seinen Besitz vererben könnte.
Natürlich war das derjenige, den der Vater für den geeignetsten
hielt, einmal sein Nachfolger zu werden, der Sohn, der ihm am
ähnlichsten war und den er deshalb am meisten liebte. Die
väterliche Liebe ist an Bedingungen geknüpft. Ihr Grundsatz
lautet: »Ich liebe dich, weil du meinen Erwartungen entsprichst,
weil du deine Pflicht erfüllst, weil du mir ähnlich bist.« Wir
finden in der bedingten väterlichen Liebe genau wie in der
unbedingten mütterlichen Liebe einen negativen und einen
positiven Aspekt. Der negative Aspekt ist, daß man sich die
väterliche Liebe verdienen muß, daß man sie verlieren kann,
wenn man sich nicht so verhält, wie es von einem erwartet wird.
Bei der väterlichen Liebe wird der Gehorsam zur höchsten
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Tugend und der Ungehorsam zur schwersten Sünde, die mit dem
Entzug der väterlichen Liebe bestraft wird. Ihre positive Seite ist
nicht weniger wichtig. Da die väterliche Liebe an Bedingungen
geknüpft ist, kann ich etwas dazu tun, sie mir zu erwerben, ich
kann mich um sie bemühen, sie steht nicht wie die mütterliche
Liebe außerhalb meiner Macht.
Die Einstellung von Mutter und Vater zu ihrem Kind
entspricht dessen Bedürfnissen. Das Kleinkind braucht sowohl
körperlich wie auch seelisch die bedingungslose Liebe und
Fürsorge der Mutter. Nachdem es sechs Jahre alt geworden ist,
braucht es dann allmählich auch die Liebe des Vaters, seine
Autorität und Lenkung. Die Mutter hat die Funktion, ihm die
Sicherheit im Leben zu geben, der Vater hat die Funktion, es zu
lehren und anzuleiten, damit es mit den Problemen fertig wird,
mit denen die Gesellschaft, in die das Kind hineingeboren
wurde, es konfrontiert. Im Idealfall versucht die Liebe der
Mutter nicht, das Kind am Erwachsenwerden zu hindern und
seine Hilflosigkeit auch noch zu belohnen. Die Mutter sollte
Vertrauen zum Leben haben und daher nicht überängstlich sein
und das Kind mit ihrer Angst anstecken. Sie sollte den Wunsch,
daß das Kind unabhängig wird und sich schließlich von ihr
trennt, zu einem Bestandteil ihres Lebens machen. Die
väterliche Liebe sollte sich von Grundsätzen und Erwartungen
leiten lassen. Sie sollte geduldig und tolerant und nicht
bedrohlich und autoritär sein. Sie sollte dem heranwachsenden
Kind in immer stärkerem Maße das Gefühl eigener Kompetenz
geben und ihm schließlich erlauben, über sich selbst zu
bestimmen und ohne die väterliche Autorität auszukommen.
Schließlich hat der reife Mensch den Punkt erreicht, an dem er
seine eigene Mutter und sein eigener Vater ist. Er besitzt dann
sozusagen ein mütterliches und ein väterliches Gewissen. Das
mütterliche Gewissen sagt: »Es gibt keine Missetat, kein
Verbrechen, die dich meiner Liebe, meiner guten Wünsche für
dein Leben und für dein Glück berauben könnten.« Das
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väterliche Gewissen sagt: »Du hast unrecht getan und mußt die
Folgen tragen; vor allem aber mußt du dein Verhalten ändern,
wenn ich dir auch weiterhin gut sein soll.« Der reife Mensch hat
sich von der äußeren Mutter- und Vaterfigur freigemacht und sie
in seinem Inneren aufgebaut. Im Unterschied zu Freuds Über-
Ich hat er sie jedoch nicht in sich aufgebaut, indem er sich
Mutter und Vater einverleibte, sondern indem er ein
mütterliches Gewissen auf seiner eigenen Liebesfähigkeit und
ein väterliches Gewissen auf seiner eigenen Vernunft und
Urteilskraft errichtete. Im übrigen liebt der reife Mensch sowohl
entsprechend seinem mütterlichen wie auch entsprechend
seinem väterlichen Gewissen, wenn sich auch beide zu
widersprechen scheinen. Würde er nur sein väterliches
Gewissen beibehalten, so würde er streng und unmenschlich.
Wenn er nur sein mütterliches Gewissen beibehielte, könnte er
leicht sein Urteilsvermögen einbüßen und sich und andere in der
Entwicklung behindern.
Die Entwicklung von der Mutter- zur Vaterbindung und ihre
schließliche Synthese bildet die Grundlage für seelischgeistige
Gesundheit und Reife. Eine Fehlentwicklung ist die Hauptursache
für Neurosen. Dies im einzelnen darzulegen ginge über
den Rahmen dieses Buches hinaus, doch möchte ich immerhin
noch einige klärende Bemerkungen anfügen.
Eine neurotische Entwicklung kann zum Beispiel darauf
zurückgehen, daß ein Junge eine liebevolle, allzu nachsichtige
oder eine in der Familie dominierende Mutter und einen
schwachen oder gleichgültigen Vater hat. In diesem Fall kann er
an seine Mutterbindung aus seiner frühen Kindheit fixiert
bleiben und sich zu einem von der Mutter abhängigen Menschen
entwickeln, der sich hilflos fühlt und der für eine rezeptive
Persönlichkeit charakteristische Neigungen aufweist; er möchte
von anderen empfangen, beschützt und bemuttert werden, und
ihm fehlen die väterlichen Eigenschaften wie Disziplin,
Unabhängigkeit und die Fähigkeit, das Leben selbst zu meistern.
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Er wird vermutlich versuchen, in jedem eine »Mutter« zu
finden, gelegentlich in einer Frau und gelegentlich auch in
einem Mann, der Autorität und Macht hat. Ist die Mutter
dagegen kalt, teilnahmslos und dominierend, so kann er
entweder sein Bedürfnis nach mütterlichem Schutz auf den
Vater und später auf Vaterfiguren übertragen - dann ist das
Endresultat etwa das gleiche wie im ersten Fall -, oder er wird
sich zu einem einseitig vaterorientierten Menschen entwickeln,
der sich ausschließlich an die Prinzipien von Gesetz, Ordnung
und Autorität hält und dem die Fähigkeit fehlt, bedingungslose
Liebe zu erwarten oder zu empfangen. Diese Entwicklung wird
noch intensiviert, wenn ein autoritärer Vater gleichzeitig seinem
Sohn eng verbunden ist. Kennzeichnend für alle diese
neurotischen Entwicklungen ist, daß das eine Prinzip - das
väterliche oder das mütterliche - sich nicht richtig entwickelt
oder daß die Mutter- oder Vaterrolle in bezug auf
Außenstehende und in bezug auf diese Rollen im eigenen
Inneren durcheinandergeraten, wie es bei schwereren Formen
von Neurosen der Fall ist. Bei eingehenderen Untersuchungen
wird man feststellen, daß gewisse Neurosetypen, wie zum
Beispiel Zwangsneurosen, sich häufiger aus einer einseitigen
Vaterbindung heraus entwickeln, während andere, wie Hysterie,
Alkoholismus und die Unfähigkeit, sich durchzusetzen und sich
auf realistische Weise mit dem Leben auseinanderzusetzen,
sowie Depressionen Folge einer einseitigen Mutterbindung