Die Liebe im Verfall

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen
westlichen Gesellschaft.


Wenn Liebe eine Fähigkeit des reifen, produktiven Charakters
ist, so folgt daraus, daß die Liebesfähigkeit eines in einer
bestimmten Kultur lebenden Menschen von dem Einfluß
abhängt, den diese Kultur auf den Charakter des Durchschnittsbürgers
ausübt. Wenn wir jetzt von der Liebe in der westlichen
Kultur sprechen, wollen wir uns daher zunächst fragen, ob die
Gesellschaftsstruktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr
resultierende Geist der Entwicklung von Liebe förderlich ist.
Wir müssen diese Frage verneinen. Kein objektiver Beobachter
unseres westlichen Lebens kann bezweifeln, daß die Liebe - die
Nächstenliebe, die Mutterliebe und die erotische Liebe - bei uns
eine relativ seltene Erscheinung ist und daß einige Formen der
Pseudoliebe an ihre Stelle getreten sind, bei denen es sich in
Wirklichkeit um ebenso viele Formen des Verfalls der Liebe
handelt.
Die kapitalistische Gesellschaft gründet sich einerseits auf das
Prinzip der politischen Freiheit und andererseits auf den Markt
als den Regulator aller wirtschaftlichen und damit auch
gesellschaftlichen Beziehungen. Der Markt der Gebrauchsgüter
bestimmt die Bedingungen, unter denen diese Gebrauchsgüter
ausgetauscht werden, der Arbeitsmarkt reguliert den An- und
Verkauf von Arbeitskraft.
Nutzbringende Dinge wie auch nutzbringende menschliche
Energie werden in Gebrauchsgüter verwandelt, die man ohne
Anwendung von Gewalt und ohne Betrug entsprechend den
Marktbedingungen austauscht. Schuhe zum Beispiel, so nützlich
und notwendig sie sein mögen, haben keinen wirtschaftlichen
Wert (Tauschwert), wenn auf dem Markt keine Nachfrage
danach herrscht. Die menschliche Energie und Geschicklichkeit
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hat keinen Tauschwert, wenn sie unter den derzeitigen
Marktbedingungen nicht gefragt ist. Wer über Kapital verfügt,
kann Arbeitskraft kaufen und so einsetzen, daß er sein Kapital
gewinnbringend anlegt. Wer nur über Arbeitskraft verfügt, muß
sie zu den jeweiligen Marktbedingungen an die Kapitalisten
verkaufen, wenn er nicht verhungern will. Diese wirtschaftliche
Struktur spiegelt sich in der Hierarchie der Werte wider. Das
Kapital dirigiert die Arbeitskraft; angesammelte, tote Dinge
besitzen einen höheren Wert als das Lebendige, die menschliche
Arbeitskraft und Energie.
Dies war von Anfang an die Grundstruktur des Kapitalismus.
Obgleich es noch immer auch für den modernen Kapitalismus
kennzeichnend ist, haben sich doch inzwischen eine Reihe von
Faktoren geändert, die dem heutigen Kapitalismus seine
spezifischen Eigenschaften verleihen und einen tiefen Einfluß
auf die Charakterstruktur des modernen Menschen ausüben. Die
Entwicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, daß wir heute
Zeugen eines ständig zunehmenden Prozesses der Zentralisierung
und Konzentration des Kapitals sind. Die großen
Unternehmen dehnen sich ständig weiter aus, und die kleineren
werden von ihnen erdrückt. Die Besitzer des in Großunternehmen
investierten Kapitals sind immer seltener zugleich auch
die Manager. Hunderttausende von Aktionären »besitzen« das
Unternehmen; eine Bürokratie von gutbezahlten Managern,
denen das Unternehmen jedoch nicht gehört, verwaltet es. Diese
Bürokratie ist weniger an einem maximalen Profit als an der
Ausweitung des Unternehmens und der eigenen Macht
interessiert. Parallel mit der zunehmenden Konzentration des
Kapitals und dem Aufkommen einer mächtigen Managerbürokratie
läuft die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Durch
die Organisierung der Arbeiter in den Gewerkschaften braucht
der einzelne Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr seine
Sache allein auszuhandeln. Er ist in großen Gewerkschaften
organisiert, die von einer mächtigen Bürokratie geleitet werden
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und die ihn gegenüber den Industriekolossen vertreten. Auf dem
Gebiet des Kapitals wie auch auf dem Arbeitsmarkt ist die
Initiative, mag man das nun begrüßen oder bedauern, vom
einzelnen auf die Bürokratie übergegangen. Immer mehr
Menschen verlieren ihre Unabhängigkeit und werden von
Managern der großen Wirtschaftsimperien abhängig.
Ein weiteres entscheidendes Merkmal, das auf diese
Konzentration des Kapitals zurückzuführen und das für den
modernen Kapitalismus charakteristisch ist, ist die spezifische
Art der Arbeitsorganisation. Die weitgehend zentralisierten
Unternehmen mit ihrer radikalen Arbeitsteilung führen zu einer
Organisation der Arbeit, bei der der einzelne seine Individualität
einbüßt und zu einem austauschbaren Rädchen in der
Maschinerie wird. Man kann das menschliche Problem des
Kapitalismus folgendermaßen formulieren: Der moderne
Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos
funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren
Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und
beeinflußt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und
unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine
Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die
trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was
man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die
Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen
lassen, ohne daß man Gewalt anwenden müßte, die sich ohne
Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer
dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben,
zu funktionieren und voranzukommen.
Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich
selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. (Vgl.
meine ausführliche Diskussion des Problems der Entfremdung
und des Einflusses der modernen Gesellschaft auf den
menschlichen Charakter in E. Fromm, 1955 a.) Er hat sich in
eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte
-100-
als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen
Marktbedingungen den größtmöglichen Profit einzub ringen hat.
Die menschlichen Beziehungen sind im wesentlichen die von
entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit,
wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich in seinem
Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen
unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe
wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein
tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer
dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu
überwinden vermag. Unsere Zivilisation verfügt über viele
Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins
nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine
der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft,
daß sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des
Verlangens nach Transzendenz und Einheit, bewußt werden. Da
die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der
Mensch seine unbewußte Verzweiflung durch die Routine des
Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und
Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; außerdem
durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese
bald wieder gegen andere auszuwechseln. Der moderne Mensch
kommt tatsächlich dem Bild nahe, das Aldous Huxley in seinem
Roman Brave New World (1946) beschreibt: Er ist gut genährt,
gut gekleidet und sexuell befriedigt, aber ohne Selbst und steht
nur in einem höchst oberflächlichen Kontakt mit seinen
Mitmenschen. Dabei wird er von Devisen geleitet, die Huxley
äußerst treffend formuliert hat: »Wenn der einzelne fühlt, wird
die Gesellschaft von Schwindel erfaßt.« Oder: »Verschiebe ein
Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst.«
Oder die Krone von allem: »Heutzutage ist jeder glücklich.«
Des Menschen Glück besteht heute darin, »seinen Spaß zu
haben«. Und man hat seinen Spaß, wenn man sich
Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen,
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Zeitschriften, Bücher und Filme »einverleibt«, indem man alles
konsumiert, alles verschlingt. Die Welt ist nur noch da zur
Befriedigung unseres Appetits, sie ist ein riesiger Apfel, eine
riesige Flasche, eine riesige Brust, und wir sind die Säuglinge,
die ewig auf etwas warten, ewig auf etwas hoffen und ewig
enttäuscht werden. Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu
tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu
konsumieren. Alles und jedes - geistige wie materielle Dinge -
wird zu Objekten des Tausches und des Konsums.
Wie nicht anders zu erwarten, ist auch die Liebe vom
Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen geprägt.
Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen
Vorzüge aus und hoffen auf ein faires Geschäft. Einer der
signifikantesten Ausdrücke im Zusammenhang mit Liebe und
besonders im Zusammenhang mit einer solchermaßen
entfremdeten Ehe ist die Idee des »Teams«. In zahllosen
Artikeln über die glückliche Ehe wird deren Idealform als ein
reibungslos funktionierendes Team beschrieben. Diese
Beschreibung unterscheidet sich kaum von der eines reibungslos
funktionierenden Angestellten, der »ziemlich unabhängig«, zur
Zusammenarbeit bereit, tolerant und gleichzeitig ehrgeizig und
aggressiv sein sollte.
Dementsprechend soll der Ehemann, wie die Eheberater uns
mitteilen, seine Frau »verstehen« und ihr eine Hilfe sein. Er soll
ihr neues Kleid und ein schmackhaftes Gericht, das sie ihm
vorsetzt, loben. Sie ihrerseits soll Verständnis dafür haben, wenn
er müde und schlechtgelaunt heimkommt, sie soll ihm
aufmerksam zuhören, wenn er über seine beruflichen
Schwierigkeiten redet, und sich nicht ärgern, sondern es
verständnisvoll aufnehmen, wenn er ihren Geburtstag vergißt.
Beziehungen dieser Art laufen alle auf die gut geölte Beziehung
zwischen zwei Menschen hinaus, die sich ihr ganzes Leben lang
fremd bleiben, die nie zu einer Beziehung von Personmitte zu
Personmitte gelangen, sondern sich lediglich höflich behandeln
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und versuchen, es dem anderen etwas leichter zu machen. Bei
dieser Auffassung von Liebe und Ehe kommt es in erster Linie
darauf an, eine Zuflucht vor dem sonst unerträglichen Gefühl
des Alleinseins zu finden. In der »Liebe« hat man endlich einen
Hafen gefunden, der einen vor der Einsamkeit schützt. Man
schließt zu zweit einen Bund gegen die Welt und hält dann
diesen égoisme à deux irrtümlich für Liebe und Vertrautheit.
Die Betonung des Teamgeistes, der gegenseitigen Toleranz
usw. ist eine relativ neue Entwicklung. In den Jahren nach dem
Ersten Weltkrieg hatte man eine andere Auffassung von der
Liebe. Damals hielt man die gegenseitige sexuelle Befriedigung
für die Grundlage einer befriedigenden Liebesbeziehung und
besonders für die einer glücklichen Ehe. Man glaubte den Grund
für die vielen unglücklichen Ehen darin gefunden zu haben, daß
die Ehepartner es nicht verstanden, sich sexuell richtig
aufeinander einzustellen, und führte dies darauf zurück, daß sie
sich sexuell nicht »richtig« zu verhalten wußten, gab also der
falschen sexuellen Technik des einen Partners oder beider
Partner die Schuld. Um diesen Fehler zu »heilen« und den
unglücklichen Partnern, die sich nicht lieben konnten, zu helfen,
enthielten viele Bücher Weisungen und erteilten Belehrungen
und Ratschläge, wie das sexuelle Verhalten zu korrigieren sei,
und versprachen implizit oder explizit, daß Glück und Liebe
sich dann schon einstellen würden. Die zugrundeliegende Idee
war, daß die Liebe das Kind der sexuellen Lust sei und daß zwei
Menschen sich lieben würden, wenn sie erst gelernt hätten, sich
gegenseitig sexuell zu befriedigen. Es paßte in die allgemeine
Illusion jener Zeit hinein, daß man annahm, durch Anwendung
der richtigen Technik könne man nicht nur die technischen
Probleme der industriellen Produktion, sondern auch alle
menschlichen Probleme lösen. Man erkannte nicht, daß es genau
umgekehrt ist.
Die Liebe ist nicht das Ergebnis einer adäquaten sexuellen
Befriedigung, sondern das sexuelle Glück - ja sogar die
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Erlernung der sogenannten sexuellen Technik - ist das Resultat
der Liebe. Wenn diese These, abgesehen von den
Beobachtungen im täglichen Leben, noch eines Beweises
bedürfte, so würden die Psychoanalysen reichlich Material dafür
liefern. Wenn man die am häufigsten auftretenden sexuellen
Probleme untersucht - die Frigidität der Frau und mehr oder
weniger schwere Formen psychisch bedingter Impotenz beim
Mann -, so erkennt man, daß die Ursache dafür nicht in der
mangelnden Kenntnis der richtigen Technik, sondern in den
Hemmungen zu suchen ist, die es unmöglich machen zu lieben.
Angst oder Haß gegenüber dem anderen Geschlecht liegen
diesen Schwierigkeiten zugrunde, die einen Menschen hindern,
sich ganz hinzugeben und aus dem Vertrauen auf den
Sexualpartner heraus beim unmittelbaren körperlichen Kontakt
spontan zu reagieren. Wenn ein sexuell gehemmter Mensch es
fertigbringt, sich von seiner Angst oder seinem Haß
freizumachen und auf diese Weise fähig wird zu lieben, dann
sind seine sexuellen Probleme gelöst. Gelingt es ihm nicht, dann
werden ihm auch noch so umfassende Kenntnisse über
Sexualtechniken nicht helfen.
Während jedoch das aus der psychoanalytischen Therapie
gewonnene Material darauf hinweist, daß es ein Irrtum ist, zu
glauben, die Kenntnis der richtigen Sexualtechnik würde zu
sexuellem Glück und zur Liebe führen, stand doch die dieser
Meinung zugrundeliegende Annahme, die Liebe sei eine
Begleiterscheinung der gegenseitigem sexuellen Befriedigung,
stark unter dem Einfluß von Freuds Theorien. Für Freud war die
Liebe im wesentlichen ein sexuelles Phänomen. »Die Erfahrung,
daß die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die
stärksten Befriedigungserlebnisse gebe, müßte es nahegelegt
haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf
dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die
genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen« (S.
Freud, 1930 a, S. 460).
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Für Freud ist die Nächstenliebe ein Produkt der sexuellen
Begierde, wobei jedoch der Sexualtrieb in einen »zielgehemmten
Impuls« verwandelt ist. »Die zielgehemmte Liebe war
eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten
des Menschen noch immer« (a.a.O., S. 462). Was das Glück des
völligen Einsseins, das »ozeanische Gefühl« betrifft, das das
Wesen des mystischen Erlebens ausmacht und das dem
intensivsten Gefühl der Vereinigung mit einem anderen
Menschen oder mit unseren Mitmenschen zugrunde liegt, so hat
Freud es als pathologische Regression, als »Wiederherstellung
des uneingeschränkten Narzißmus« der frühen Kindheit
interpretiert (a.a.O., S. 430).
Es heißt nur noch einen Schritt weitergehen, wenn für Freud
die Liebe an sich ein irrationales Phänomen ist. Für ihn gibt es
keinen Unterschied zwischen irrationaler Liebe und der Liebe
als Ausdruck der reifen Persönlichkeit. In seinen Bemerkungen
über die Übertragungsliebe (S. Freud, 1915 a) stellt er die
Behauptung auf, die Übertragungsliebe unterscheide sich im
wesentlichen nicht von dem »normalen« Phänomen der Liebe.
Sich zu verlieben grenze stets ans Abnorme, gehe immer Hand
in Hand mit Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, es habe
Zwangscharakter und sei eine Übertragung von Liebesobjekten
der Kindheit. Als ein rationales Phänomen und als höchster
Ausdruck der Reife war die Liebe für ihn kein
Forschungsobjekt, da sie keine reale Existenz für ihn besaß.
Es wäre jedoch falsch, den Einfluß zu überschätzen, den
Freuds Ideen auf die Auffassung ausübten, die Liebe sei das
Resultat sexueller Anziehung oder - besser gesagt - sie sei
dasselbe wie die im bewußten Gefühl reflektierte sexuelle
Befriedigung. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge genau
umgekehrt. Teilweise sind Freuds Ideen selbst vom Geist des
neunzehnten Jahrhunderts beeinflußt; teils wurden sie durch den
nach dem Ersten Weltkrieg herrschenden Zeitgeist populär.
Sowohl die damals verbreiteten Anschauungen wie auch Freuds
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Auffassungen waren erstens die Reaktion auf die strengen
Moralbegriffe der Viktorianischen Zeit. Zweitens waren Freuds
Ideen von dem damals vorherrschenden Menschenbild geprägt,
das von der Struktur des Kapitalismus bestimmt war. Um zu
beweisen, daß der Kapitalismus den natürlichen Bedürfnissen
des Menschen entspricht, mußte man nachweisen, daß der
Mensch von Natur aus auf Wettbewerb eingestellt und einer des
anderen Feind is t. Während die Nationalökonomen dies mit dem
unersättlichen Streben nach wirtschaftlichem Gewinn
»bewiesen« und die Darwinisten es mit dem biologischen
Gesetz vom Überleben des Tüchtigsten begründeten, kam Freud
zum gleichen Resultat aufgrund der Annahme, daß der Mann
von dem unstillbaren Verlangen erfüllt sei, alle Frauen sexuell
zu erobern, und daß ihn nur der Druck der Gesellschaft davon
abhalte. Die Folge war seiner Auffassung nach, daß die Männer
aufeinander eifersüchtig sein müßten, und er nahm an, daß diese
gegenseitige Eifersucht und der Konkurrenzkampf selbst dann
noch fortbestehen würden, wenn alle gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Gründe dafür verschwunden wären. (Der
einzige Schüler Freuds, der sich nie von seinem Meister trennte,
der aber trotzdem in seinen letzten Lebensjahren seine
Ansichten über die Liebe änderte, war Sándor Ferenczi. Eine
ausgezeichnete Erörterung dieses Themas bietet I. de Forest,
1954.)
Schließlich war Freud in seinem Denken auch noch
weitgehend von der im neunzehnten Jahrhundert herrschenden
Richtung des Materialismus beeinflußt. Man glaubte, das
Substrat aller geistigseelischen Erscheinungen sei in physiologischen
Phänomenen zu suchen. Daher hat Freud Liebe, Haß,
Ehrgeiz und Eifersucht sämtlich als Produkte der verschiedenen
Formen des Sexualtriebs erklärt. Er erkannte nicht, daß die
grundlegende Wirklichkeit die Totalität der menschlichen
Existenz ist, die erstens durch die allen Menschen gemeinsame
»menschliche Situation« und zweitens durch die Lebenspraxis
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bestimmt ist, die ihrerseits durch die spezifische Struktur der
Gesellschaft determiniert ist. (Marx hat mit seinem
»historischen Materialismus« den entscheidenden Schritt
vollzogen, der über diese Art von Materialismus hinausführt.
Für ihn war nicht der Körper und auch nicht ein Trieb, etwa das
Bedürfnis nach Nahrung oder Besitz, der Schlüssel zum
Verständnis des Menschen, sondern der gesamte Lebensprozeß
des Menschen, seine »Lebenspraxis«.) Nach Freud würde die
volle und ungehemmte Befriedigung aller triebhaften Wünsche
seelische Gesundheit und Glück verbürgen. Aber die klinischen
Fakten zeigen unverkennbar, daß Männer - und Frauen -, die ihr
Leben der hemmungslosen sexuellen Befriedigung widmen,
nicht glücklich sind und sehr häufig unter schweren
neurotischen Konflikten oder Symptomen leiden. Die völlige
Befriedigung aller triebhaften Bedürfnisse ist nicht nur kein
Fundament des Glücks, sie garantiert nicht einmal seelische
Gesundheit. Freuds Idee konnte in der Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg nur deshalb so populär werden, weil sich im Geist des
Kapitalismus gewisse Veränderungen vollzogen hatten. Das
Hauptgewicht wurde nicht mehr auf das Sparen, sondern auf das
Geldausgeben gelegt. Anstatt sich einzuschränken, um es
wirtschaftlich zu etwas zu bringen strebte man jetzt nach
möglichst großem Konsum auf einem sich ständig erweiternden
Markt, wo der angsterfüllte automatisierte Einzelmensch seine
Hauptbefriedigung fand. Die Befriedigung eines Wunsches
unter keinen Umständen hinauszuschieben wurde im Bereich
der Sexualität wie beim materiellen Konsum zum herrschenden
Prinzip.
Es ist interessant, die Freudschen Begriffe, die dem Geist des
Kapitalismus entsprechen, wie er zu Anfang unseres Jahrhunderts
noch ungebrochen fortbestand, mit den theoretischen
Begriffen eines der bedeutendsten zeitgenössischen Psychoanalytiker,
des verstorbenen H. S. Sullivan, zu vergleichen. In
Sullivans psychoanalytischem System finden wir im Gegensatz
-107-
zu dem von Freud eine strenge Unterscheidung zwischen
Sexualität und Liebe.
Was versteht Sullivan unter Liebe und Intimität? »Intimität ist
jene Situation zwischen zwei Menschen, welche es ermöglicht,
alle Komponenten des persönlichen Wertes voll zur Geltung zu
bringen. Dies erfordert eine Art der Beziehung, die ich als
Kollaboration bezeichnen möchte, worunter ich die klar
umrissene Anpassung des Verhaltens des einen Partners an die
zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse des anderen Partners
verstehe, mit dem Ziel einer immer mehr identischen, das heißt
nahezu gegenseitigen Befriedigung, wobei immer ähnlichere
Mittel angewandt werden, um dem anderen ein Gefühl der
Sicherheit zu geben« (H. S. Sullivan, 1953, S. 246; hierzu ist zu
bemerken, daß Sullivans Definition sich zwar auf die Störungen
von Voradoleszenten bezieht, daß er aber von diesen als
integrierenden Tendenzen spricht, die während der
Voradoleszenz in Erscheinung treten und »die wir, wenn sie voll
entwickelt sind, Liebe nennen«, und daß er sagt, diese Liebe in
der Voradoleszenz stelle »den Anfang von etwas dar, was der
vollentwickelten, psychiatrisch definierten Liebe sehr
nahekommt«). Mit noch etwas einfacheren Worten hat Sullivan
das Wesen der Liebe als eine Situation der Kollaboration
bezeichnet, in der zwei Menschen das Gefühl haben: »Wir
halten uns an die Spielregeln, um unser Prestige zu wahren und
uns das Gefühl zu erhalten, anderen überlegen zu sein und
gewisse Verdienste zu haben« (a.a.O.; eine andere Definition
der Liebe, in der Sullivan sagt, die Liebe beginne damit, daß ein
Mensch das Gefühl habe, daß die Bedürfnisse des anderen
ebenso wichtig seien wie seine eigenen, ist weniger von der
Marketing-Orientierung geprägt als die oben erwähnte
Formulierung).
Genau wie Freuds Vorstellung von der Liebe dem
patriarchalischen Mann im Sinne des Materialismus des
neunzehnten Jahrhunderts entspricht, bezieht sich Sullivans
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Definition auf die Erfahrung der entfremdeten Marketing-
Persönlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um
die Beschreibung eines egoisme à deux von zwei Menschen, die
ihre beiderseitigen Interessen in einen Topf werfen und gegen
eine feindliche und entfremdete Welt zusammenstehen.
Tatsächlich gilt seine Definition der Intimität im Prinzip für das
Gefühl eines jeden zusammenarbeitenden Teams, »in dem jeder
sein Verhalten den zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen des
anderen in der Verfolgung gemeinsamer Ziele anpaßt« (a.a.O.).
(Bemerkenswert ist, daß Sullivan hier von zum Ausdruck
gebrachten Bedürfnissen spricht, während man von der Liebe
doch zum mindesten sagen müßte, daß sie eine Reaktion zweier
Menschen auf ihre unausgesprochenen Bedürfnisse impliziert.)
Die Liebe als gegenseitige sexuelle Befriedigung und die
Liebe als »Teamwork« und schützender Hafen vor der
Einsamkeit sind die beiden »normalen« Formen des Verfalls der
Liebe in der modernen westlichen Gesellschaft. Sie stellen die
gesellschaftlich bedingte Pathologie der Liebe dar Es gibt viele
individuelle Formen pathologischer Liebe, die dazu führen, daß
die Betreffenden bewußt leiden und die von Psychiatern und
auch von einer immer größeren Zahl von Laien als neurotisch
angesehen werden. Ich möchte im folgenden kurz ein paar
Beispiele für diese Formen geben.
Grundvoraussetzung für die neurotische Liebe ist, daß einer
der beiden »Liebenden« oder auch beide noch an eine
Elternfigur gebunden sind und daß sie jetzt als Erwachsene die
Gefühle, Erwartungen und Ängste, die sich auf den Vater oder
die Mutter bezogen, auf die geliebte Person übertragen. Solche
Menschen haben diese infantile Bezogenheit nie überwunden
und suchen als Erwachsene nach ähnlichen effektiven
Beziehungen. In diesen Fällen ist der Betreffende in seinem
Gefühlsleben noch ein zwei- oder fünf- oder zwölfjähriges Kind,
während er intellektuell und gesellschaftlich auf der Stufe seines
wirklichen Alters steht. In schwierigen Fällen führt die
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emotionale Unreife zu einer Beeinträchtigung der Leistungen
innerhalb der Gesellschaft; in weniger schweren Fällen bleibt
der Konflikt auf die Sphäre der intimen persönlichen
Beziehungen beschränkt.
Mit folgendem Beispiel kommen wir noch einmal auf unsere
Diskussion der mutter- oder vaterzentrierten Persönlichkeit
zurück. Bei dieser heute häufig unzutreffenden neurotischen
Liebesbeziehung handelt es sich um Männer, die in bezug auf
ihre emotionale Entwicklung in ihrer infantilen Bindung an die
Mutter steckengeblieben sind. Es sind Männer, die gleichsam
nie von der Mutter entwöhnt wurden. Sie fühlen sich noch
immer als Kinder; sie verlangen nach mütterlichem Schutz, nach
mütterlicher Liebe, Wärme, Fürsorge und Bewunderung; sie
brauchen die bedingungslose Liebe einer Mutter, eine Liebe, die
ihnen aus keinem anderen Grund gegeben wird als dem, daß sie
das Kind ihrer Mutter sind und daß sie hilflos sind. Solche
Männer sind häufig recht zärtlich und charmant, wenn sie
versuchen, eine Frau dazu zu bringen, sie zu lieben, und sie
bleiben es sogar, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben. Aber ihre
Beziehung zu dieser Frau (wie übrigens zu allen anderen
Menschen auch) bleibt oberflächlich und ohne Verantwortungsgefühl.
Ihr Ziel ist, geliebt zu werden, nicht zu lieben. Solche
Männer sind gewöhnlich recht eitel und haben mehr oder
weniger versteckt den Kopf voll grandioser Ideen. Wenn sie die
richtige Frau gefunden haben, fühlen sie sich sicher und aller
Welt überlegen. Sie können dann sehr liebevoll und charmant
sein, was der Grund dafür ist, daß man so oft auf sie hereinfällt.
Wenn aber dann die Frau nach einiger Zeit ihren phantastischen
Erwartungen nicht mehr entspricht, kommt es zu Konflikten und
Verstimmungen. Wenn die Frau einen solchen Mann nicht
ständig bewundert, wenn sie ihr eigenes Leben leben will, wenn
sie selbst geliebt und beschützt werden möchte und wenn sie in
extremen Fällen nicht bereit ist, ihm seine Liebesaffären mit
anderen Frauen zu verzeihen (oder sogar ein bewunderndes
-110-
Interesse dafür zu bekunden), dann fühlt er sich zutiefst verletzt
und enttäuscht und erklärt gewöhnlich dieses Gefühl damit, daß
die Frau ihn nicht liebe und egoistisch und anmaßend sei. Alles,
was nicht der Haltung einer liebenden Mutter gegenüber ihrem
entzückenden Kind entspricht, wird ihr als mangelnde Liebe
ausgelegt. Solche Männer verwechseln gewöhnlich ihr
charmantes Verhalten, ihren Wunsch zu gefallen mit echter
Liebe und kommen so zu dem Ergebnis, daß sie unfair behandelt
werden. Sie halten sich für großartige Liebhaber und beklagen
sich bitter über die Undankbarkeit ihres Liebespartners.
In seltenen Fällen kann ein solcher Mann, der von seiner
Mutterbindung nicht loskommt, ohne schwere Störungen recht
gut funktionieren. Wenn seine Mutter ihn tatsächlich auf eine
übertrieben besorgte Weise geliebt hat (vielleicht als eine im
Haus dominierende, aber nicht destruktive Frau), wenn er selbst
eine Ehefrau vom gleichen mütterlichen Typ findet, wenn seine
spezifischen Begabungen und Talente ihm die Möglichkeit
geben, seinen Charme spielen zu lassen und bewundert zu
werden (wie das gelegentlich bei erfolgreichen Politikern der
Fall ist), dann ist er gesellschaftlich »gut angepaßt«, ohne jedoch
je ein höheres Niveau der Reife zu erreichen. Aber unter
weniger günstigen Bedingungen - und das kommt natürlich
häufiger vor - wird sein Liebesleben, wenn nicht sogar sein
Leben in der Gesellschaft, zu einer schweren Enttäuschung.
Wenn dieser Persönlichkeitstyp sich im Stich gelassen fühlt,
kommt es zu Konflikten, und er wird häufig von intensiver
Angst und von Depressionen befallen.
Es gibt eine noch schwerere Form der Erkrankung, bei der die
Mutterbindung noch tiefgehender und noch irrationaler ist. Auf
dieser Ebene möchte der Betreffende nicht symbolisch in
Mutters schützende Arme, nicht an ihre nährende Brust, sondern
in ihren allempfangenden - und allzerstörenden - Schoß zurückkehren.
Wenn es das Wesen der geistigseelischen Gesundheit
ist, aus dem Mutterschoß in die Welt hineinzuwachsen, so ist
-111-
eine schwere seelische Erkrankung dadurch gekennzeichnet, daß
der Betreffende sich zum Mutterschoß hingezogen fühlt, daß er
davon wieder aufgesogen und aus dem Leben herausgenommen
werden möchte. Zu einer derartigen Mutterbindung kommt es
im allgemeinen, wenn Mütter ihre Kinder auf diese
verschlingende und destruktive Weise an sich binden. Sie
möchten - manchmal im Namen der Liebe, manchmal im
Namen der Pflicht - das Kind, den Adoleszenten, den Mann in
sich behalten; nur durch sie soll er atmen können; er soll, außer
auf einem oberflächlichen sexuellen Niveau, nicht lieben
können und alle anderen Frauen damit entwürdigen; er soll nicht
frei und unabhängig sein, sondern ein ewiger Krüppel oder ein
Verbrecher.
Dieser Aspekt der destruktiven, verschlingenden Mutter ist
der negative Aspekt der Mutterfigur. Die Mutter kann das Leben
geben, und sie kann es auch nehmen. Sie kann beleben und
zerstören; sie kann Wunder der Liebe bewirken, und niemand
kann so verletzen wie sie. Man findet diese beiden
entgegengesetzten Aspekte der Mutter häufig in religiösen
Bildnissen (zum Beispiel bei der Hindugöttin Kali) wie auch in
Traumsymbolen.
Eine andere Form neurotischer Erkrankung findet sich bei
Menschen mit einer überstarken Vaterbindung.
Ein solcher Fall liegt bei einem Mann vor, dessen Mutter kalt
und reserviert ist, während der Vater (teilweise infolge der
Gefühlskälte seiner Frau) seine ganze Liebe und sein ganzes
Interesse auf den Sohn konzentriert. Er ist ein »guter Vater«,
aber zugleich ist er autoritär. Wenn ihm das Verhalten seines
Sohnes behagt, lobt er ihn, beschenkt er ihn und behandelt er ihn
liebevoll; mißfallt ihm sein Sohn, so zieht er sich von ihm
zurück oder tadelt ihn. Der Sohn, der keine andere Zuneigung
erfährt als die seines Vaters, gerät in eine sklavische
Abhängigkeit von ihm. Sein Hauptlebensziel ist dann, es dem
Vater recht zu machen. Gelingt ihm das, so fühlt er sich
-112-
glücklich, sicher und zufrieden. Macht er jedoch einen Fehler,
mißlingt ihm etwas oder gelingt es ihm nicht, dem Vater zu
gefallen, so fühlt er sich klein und häßlich, ungeliebt und
ausgestoßen. In seinem späteren Leben wird ein solcher Mensch
eine Vaterfigur zu finden suchen, an die er sich in ähnlicher
Weise anschließt. Sein ganzes Leben wird zu einer Folge von
Höhe- und Tiefpunkten, je nachdem, ob es ihm gelingt, das Lob
des Vaters zu bekommen. Solche Männer sind in ihrer
gesellschaftlichen Laufbahn oft sehr erfolgreich. Sie sind
gewissenhaft, zuverlässig, fleißig - vorausgesetzt, die Vaterfigur,
die sie sich erwählt haben, versteht sie richtig zu
behandeln. In ihren Beziehungen zu Frauen bleiben sie jedoch
zurückhaltend und distanziert. Die Frau besitzt für sie keine
zentrale Bedeutung, meist verachten sie sie ein wenig, was sie
oft hinter der Maske eines väterlichen Interesses auf ein kleines
Mädchen verbergen. Zu Anfang haben sie durch ihre
Männlichkeit vielleicht Eindruck auf eine Frau gemacht, aber sie
werden für die Frau, die sie heiraten, zu einer wachsenden
Enttäuschung, wenn diese merkt, daß es ihr Schicksal ist, in
bezug auf die Liebe ihres Mannes hinter der Vaterfigur, die in
dessen Leben stets die Hauptrolle spielt, zurückstehen zu
müssen; anders ist es, wenn sie zufällig selbst eine unaufgelöste
Vaterbindung hat und deshalb mit einem Mann glücklich ist, der
zu ihr eine Beziehung hat wie zu einem launischen Kind.
Komplizierter ist jene Art von neurotischen Störungen in der
Liebe, die ihren Grund in einer anderen Elternkonstellation hat,
nämlich dann, wenn Eltern einander nicht lieben, aber zu
beherrscht sind, um sich zu streiten oder nach außen hin ihre
mangelnde Befriedigung merken zu lassen. Ihre distanzierte
Haltung macht, daß auch ihrer Beziehung zu ihren Kindern jede
Spontaneität abgeht. Ein kleines Mädchen wächst dann in einer
Atmosphäre der »Korrektheit« auf, in der es aber mit dem Vater
oder der Mutter nie in engen Kontakt kommt, was es in
Verwirrung und Angst versetzt. Es ist sich nie sicher, was die
-113-
Eltern fühlen oder denken; immer ist ein Element des
Unbekannten, Mysteriösen in der Atmosphäre. Die Folge ist,
daß das kleine Mädchen sich in seine eigene Welt abschließt
und später in seinen Liebesbeziehungen die gleiche Haltung
einnimmt.
Überdies führt dieses Sich-Zurückziehen zu einer intensiven
Angst, zu dem Gefühl, keinen festen Boden unter den Füßen zu
haben, und hat oft masochistische Tendenzen zur Folge, welche
die einzige Möglichkeit sind, intensive Erregungen zu erleben.
Oft wäre es solchen Frauen lieber, ihr Mann würde ihnen eine
Szene machen und brüllen, als daß er sich immer so normal und
vernünftig verhält, weil das wenigstens die Last der Spannung
und Angst von ihnen nehmen würden. Nicht selten provozieren
sie solche Szenen, um die quälende Spannung zu beenden, die
eine affektive Gleichgültigkeit hervorruft.
Ich möchte nun im folgenden auf andere häufige Formen
irrationaler Liebe zu sprechen kommen, ohne jedoch die ihnen
zugrundeliegenden spezifischen Faktoren aus der Kindheitsentwicklung
zu analysieren.
Eine Form der Pseudoliebe, die nicht selten ist und oft als die
»große Liebe« erlebt wird (und die noch öfter in rührenden
Filmen und Romanen dargestellt wird), ist die abgöttische
Liebe. Wenn jemand noch nicht das Niveau erreicht hat, wo er
ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins hat, das sich auf die
produktive Entfaltung seiner eigenen Kräfte gründet, neigt er
dazu, die geliebte Person zu »vergöttern«. Er wird dann seinen
eigenen Kräften entfremdet und projiziert sie auf die geliebte
Person, die er als das summum bonum, als Inbegriff aller Liebe,
allen Lichts und aller Seligkeit verehrt. Bei diesem Prozeß
beraubt er sich völlig des Gefühls von eigener Stärke und
verliert sich in der Geliebten, anstatt sich in ihr zu finden. Da in
der Regel niemand auf die Dauer die Erwartungen eines so
abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muß es zu Enttäuschungen
kommen, und man sucht sich mit einem neuen Idol zu
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entschädigen, manchmal in einem nicht endenden Kreislauf.
Kennzeichnend für diese Liebe ist die Intensität und
Plötzlichkeit des Liebeserlebnisses. Oft wird diese abgöttische
Liebe als die wahre große Liebe bezeichnet. Aber während sie
angeblich der Inbegriff einer intensiven, tiefen Liebe ist, spricht
aus ihr in Wirklichkeit nur der Hunger und die Verzweiflung des
abgöttisch Liebenden. Es braucht wohl nicht besonders erwähnt
zu werden, daß nicht selten zwei Menschen in einer
gegenseitigen abgöttischen Liebe zusammenfinden, die in
Extremfällen das Bild einer folie à deux bietet.
Eine andere Form der Pseudoliebe könnte man als
sentimentale Liebe bezeichnen. Das Wesentliche dabei ist, daß
die Liebe nur in der Phantasie und nicht im Hier und Jetzt in
einer Beziehung mit einem realen anderen Menschen erlebt
wird. Die am weitesten verbreitete Form dieser Art Liebe findet
man in der Ersatzbefriedigung, die der Konsument von
Liebesfilmen, von Liebesgeschichten in Zeitschriften und von
Liebesliedern erlebt. Alle unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe,
Vereinigung und menschlicher Nähe finden im Konsum dieser
Produkte ihre Befriedigung. Ein Mann und eine Frau, die in der
Beziehung zu ihrem Ehepartner nie fähig waren, die Mauer des
Getrenntseins zu überwinden, sind zu Tränen gerührt, wenn sie
die glückliche oder unglückliche Liebesgeschichte eines Paares
auf der Filmleinwand miterleben. Für viele Paare sind diese
Vorführungen auf der Leinwand die einzige Gelegenheit, Liebe
zu erleben - nicht Liebe zueinander, sondern als gemeinsame
Zuschauer bei der »Liebe« anderer Leute. Solange die Liebe ein
Tagtraum ist, können sie an ihr teilhaben, sobald sie aber
Wirklichkeit wird und es sich nun um die Beziehung zwischen
zwei realen Menschen handelt, erstarren sie zu Eis. Ein anderer
Aspekt der sentimentalen Liebe ist der, daß sie vom gegenwärtigen
Zustand der Liebe absieht. Da kann es vorkommen,
daß ein Paar tief gerührt den Erinnerungen an seine verflossene
Liebe nachhängt, obgleich sie damals, als die Vergangenheit
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Gegenwart war, gar keine Liebe füreinander empfanden oder
nur vom Glück zukünftiger Liebe phantasierten. Wie viele
Verlobte oder Jungvermählte träumen vom künftigen
Liebesglück und fangen bereits jetzt an, sich leid zu werden.
Diese Tendenz paßt zur allgemeinen Einstellung, die für den
modernen Menschen kennzeichnend ist. Er lebt in der
Vergangenheit oder in der Zukunft, aber nicht in der Gegenwart.
Er erinnert sich wehmütig an seine Kindheit und an seine
Mutter, oder er schmiedet glückverheißende Pläne für die
Zukunft.
Ob die Liebe aus zweiter Hand erfahren wird, indem man an
den erfundenen Erlebnissen anderer teilnimmt, oder ob man sie
aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft entrückt,
immer dient diese abstrahierende und entfremdete Form der
Liebe als Droge, die die Schmerzen der Wirklichkeit, das
Alleinsein und die Abgetrenntheit des einzelnen lindert.
Bei einer anderen Form der neurotischen Liebe werden
Projektionsmechanismen angewendet, um den eigenen
Problemen aus dem Weg zu gehen und sich statt dessen mit den
Fehlern und Schwächen der »geliebten« Person zu beschäftigen.
Die einzelnen Menschen verhalten sich in dieser Hinsicht sehr
ähnlich wie Gruppen, Nationen oder Religionen. Sie haben ein
feines Gespür auch für unwesentliche Mängel des anderen und
übersehen dabei mit fröhlicher Unbekümmertheit die eigenen -
immer darauf bedacht, dem anderen Vorwürfe zu machen oder
ihn zu erziehen. Wenn bei einem Paar das alle beide tun - wie es
oft der Fall ist -, verwandelt sich ihre Liebesbeziehung in eine
Beziehung gegenseitiger Projektionen. Wenn ich herrschsüchtig,
unentschlossen oder habgierig bin, werfe ich es meinem Partner
vor, um ihn - je nach meinem Charakter entweder davon zu
heilen oder dafür zu strafen. Der andere tut dasselbe, und auf
diese Weise gelingt es beiden, die eigenen Probleme zu
übersehen, und sie unternehmen daher auch keinerlei Schritte,
die ihnen in ihrer eigenen Entwicklung weiterhelfen würden.
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Eine weitere Form der Projektion ist die Projektion der
eigenen Probleme auf die Kinder. Gar nicht selten können wir
derartige Projektionen bereits bei dem Wunsch nach eigenen
Kindern beobachten. In solchen Fällen entspricht der Wunsch
nach Kindern in erster Linie dem Bestreben, das eigene
Existenzproblem auf das Leben der Kinder zu projizieren. Wenn
jemand das Gefühl hat, daß es ihm nicht gelungen ist, seinem
Leben einen Sinn zu geben, versucht er, den Sinn seines Lebens
im Leben seiner Kinder zu finden. Aber dieses wird
zwangsläufig für einen selbst und hinsichtlich der Kinder
scheitern. Für einen selbst scheitert es, weil jeder sein
Existenzproblem nur für sich selbst lösen und sich dabei keines
Stellvertreters bedienen kann; hinsichtlich der Kinder scheitert
es, weil es einem eben an jenen Eigenschaften fehlt, die man
brauchte, um die Kinder auf deren eigener Suche nach einer
Antwort anleiten zu können. Kinder müssen auch für
Projektionen herhalten, wenn es darum geht, eine unglückliche
Ehe aufzulösen. Das Hauptargument, das die Eltern in dieser
Situation zur Hand haben, lautet, daß sie sich nicht trennen
könnten, weil sie die Kinder nicht der Segnungen eines intakten
Elternhauses berauben wollen. Bei jeder genaueren Untersuchung
würde sich jedoch herausstellen, daß die spannungsgeladene,
unglückliche Atmosphäre einer solchen »intakten«
Familie den Kindern mehr schadet als ein offener Bruch, der sie
wenigstens lehrt, daß der Mensch in der Lage ist, eine
unerträgliche Situation durch einen mutigen Entschluß zu
beenden.
Noch ein anderer häufiger Irrtum ist in diesem
Zusammenhang zu erwähnen, nämlich die Illusion, Liebe
bedeute notwendigerweise, daß es niemals zu Konflikten
komme. Genauso wie Menschen gewöhnlich meinen, Schmerz
und Traurigkeit müßten unter allen Umständen vermieden
werden, so glauben sie auch, Liebe bedeute das Fehlen jeglicher
Konflikte. Sie haben auch allen Grund zu dieser Annahme, weil
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die Streitigkeiten in ihrer Umgebung offenbar nichts als
destruktive Auseinandersetzungen sind, die keinem der
Beteiligten irgendeinen Nutzen bringen. Die Ursache hierfür ist
jedoch, daß die »Konflikte« der meisten Menschen in
Wirklichkeit Versuche darstellen, den wirklichen Konflikten
auszuweichen. Es sind Meinungsverschiedenheiten über
geringfügige, nebensächliche Dinge, die sich ihrer Natur nach
nicht dazu eignen, etwas klarzustellen oder zu einer Lösung zu
kommen. Wirkliche Konflikte zwischen zwei Menschen, die
nicht dazu dienen, etwas zu verdecken oder auf den anderen zu
projizieren, sondern die in der Tiefenschicht der inneren
Wirklichkeit, zu der sie gehören, erlebt werden, sind nicht
destruktiv. Sie dienen der Klärung und führen zu einer
Katharsis, aus der beide Partner wissender und gestärkt
hervorgehen. Damit kommen wir wieder auf etwas zurück, das
wir bereits dargelegt haben.
Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der
Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also
jeder sich selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur
dieses »Leben aus der Mitte« ist menschliche Wirklichkeit, nur
hier ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für Liebe. Die so
erfahrene Liebe ist eine ständige Herausforderung; sie ist kein
Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen, zu wachsen,
zusammenzuarbeiten. Ob Harmonie waltet, oder ob es Konflikte
gibt, ob Freude oder Traurigkeit herrschen, ist nur von
sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache,
daß zwei Menschen sich vom Wesen ihres Seins her erleben,
daß sie miteinander eins sind, indem sie mit sich selbst eins sind,
anstatt vor sich selber auf der Flucht zu sein. Für die Liebe gibt
es nur einen Beweis: die Tiefe der Beziehung und die
Lebendigkeit und Stärke in jedem der Liebenden. Das allein ist
die Frucht, an der die Liebe zu erkennen ist.
Ebensowenig wie Automaten einander lieben können, können
sie Gott lieben. Der Verfall der Gottesliebe hat die gleichen
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Ausmaße angenommen wie der Verfall der Menschenliebe. Die
Tatsache steht in schreiendem Widerspruch zu der Idee, daß wir
in der gegenwärtigen Epoche eine religiöse Wiedergeburt
erleben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Von gewissen Ausnahmen abgesehen, erleben wir einen
Rückfall in eine götzendienende Gottesvorstellung und die
Umwandlung der Liebe zu Gott in eine Beziehung, die zu einer
entfremdeten Charakterstruktur paßt. Die Regression auf eine
götzenhafte Gottesvorstellung ist leicht zu erkennen. Die
Menschen haben Angst, sie besitzen weder Grundsätze noch
Glauben und finden sich ohne Ziel, außer dem einen, immer
weiter voranzukommen. Daher bleiben sie Kinder, um hoffen zu
können, daß Vater oder Mutter ihnen schon zu Hilfe kommen
werden, wenn sie Hilfe brauchen.
Es ist zwar wahr, daß in religiösen Kulturen wie der des
Mittelalters der Durchschnittsmensch in Gott auch einen
hilfreichen Vater und eine Mutter gesehen hat; gleichzeitig aber
nahm er Gott ernst in dem Sinn, daß es das letzte Ziel seines
Lebens ist, nach Gottes Geboten zu leben, und daß die
Erlangung des »Heils« sein höchstes Anliegen ist, dem er alle
anderen Betätigungen unterordnet. Heute ist von solchem
Bemühen nichts zu merken. Das tägliche Leben wird streng von
allen religiösen Wertvorstellungen getrennt. Man widmet es
dem Streben nach materiellem Komfort und nach Erfolg auf
dem Personalmarkt. Die Grundsätze, auf die unsere weltlichen
Bemühungen sich gründen, sind Gleichgültigkeit und Egoismus
(wobei letzterer oft als »Individualismus« oder als »individuelle
Initiative« bezeichnet wird). Menschen aus wahrhaft religiösen
Kulturen kann man mit achtjährigen Kindern vergleichen, die
zwar noch einen Vater brauchen, der ihnen hilft, die aber schon
damit anfangen, sich seine Lehren und Prinzipien selbst zu eigen
zu machen. Der heutige Mensch ist eher wie ein dreijähriges
Kind, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, aber das
sich sonst durchaus selbst genug ist, wenn es nur spielen kann.
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In dieser Hinsicht befinden wir uns in einer infantilen
Abhängigkeit von einem anthropomorphen Gottesbild. Wir
denken dabei nicht daran, unser Leben entsprechend Gottes
Geboten zu ändern, und stehen daher einem primitiven
Götzendienst treibenden Stamm näher als der religiösen Kultur
des Mittelalters. Andererseits weist unsere religiöse Situation
Züge auf, die neu sind und die nur unsere heutige westliche
kapitalistische Gesellschaft kennzeichnen. Ich kann mich hier
auf Feststellungen beziehen, die ich bereits an früherer Stelle in
diesem Buch gemacht habe. Der moderne Mensch hat sich in
eine Ware verwandelt; er erlebt seine Lebensenergie als
Investition, mit der er entsprechend seiner Stellung und seiner
Situation auf dem Personalmarkt einen möglichst hohen Profit
erzielen möchte. Er ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der
Natur entfremdet. Sein Hauptziel ist, mit seinen Fertigkeiten,
seinem Wissen und sich selbst, kurz: mit seiner
»Persönlichkeit«, ein möglichst gutes Geschäft zu machen mit
anderen, die genau wie er an einem fairen und gewinnbringenden
Tauschhandel interessiert sind. Sein Leben hat kein
Ziel außer dem einen: voranzukommen; keinen Grundsatz außer
dem einen: ein faires Tauschgeschäft zu machen; und er kennt
keine Befriedigung außer der einen: zu konsumieren. Was kann
der Gottesbegriff unter diesem Umständen noch bedeuten?
Seine ursprüngliche religiöse Bedeutung hat sich so gewandelt,
daß er jetzt in die entfremdete Kultur des Erfolgs hineinpaßt. In
jüngster Zeit hat man in der religiösen »Erneuerung« den
Glauben an Gott in eine psychologische Methode umgewandelt,
die einen für den Konkurrenzkampf noch besser ausrüsten soll.
Die Religion verbündet sich mit der Autosuggestion und der
Psychotherapie, um dem Menschen bei seinen Geschäften
behilflich zu sein. In den zwanziger Jahren hatte man Gott noch
nicht bemüht, um seine »Persönlichkeit« aufzupolieren. Der
Bestseller von 1938, Dale Carnegies How to Win Friends and
Influence People (Wie man Freunde gewinnt und Menschen
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beeinflußt), blieb auf streng weltlicher Ebene. Heute hat unser
berühmtester Bestseller The Power of Positive Thinking (Die
Macht des positiven Denkens) von Pfarrer N. V. Peale die
Funktion von Carnegies Buch übernommen. In diesem
religiösen Buch wird nicht einmal gefragt, ob unser Hauptinteresse,
das dem Erfolg gilt, auch dem Geist des
monotheistischen Glaubens entspricht. Ganz im Gegenteil wird
dieses höchste Ziel niemals angezweifelt. Der Glaube an Gott
und das Gebet werden als ein Mittel empfohlen, seine Erfolgsmöglichkeiten
noch zu vergrößern. Genauso wie moderne
Psychiater dem Angestellten empfehlen, glücklich zu sein, um
anziehender auf die Kundschaft zu wirken, gibt es Geistliche,
die den Rat geben, Gott zu lieben, um erfolgreicher zu werden.
»Mache Gott zu deinem Partner« bedeutet, man solle Gott zu
seinem Geschäftspartner machen, anstatt eins mit Gott zu
werden in Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit. Genauso wie die
biblische Nächstenliebe durch die unpersönliche Fairneß ersetzt
wurde, hat man Gott in einen weit entfernten Generaldirektor
der Universum GmbH verwandelt. Man weiß zwar, daß es ihn
gibt, er schmeißt den Laden (wenngleich der Laden vermutlich
auch ohne ihn laufen würde), man bekommt ihn nie zu sehen,
aber man erkennt ihn als Chef an, und man tut seine Pflicht