Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft.
Wenn Liebe eine Fähigkeit des reifen, produktiven Charakters ist, so folgt daraus, daß die Liebesfähigkeit eines in einer bestimmten Kultur lebenden Menschen von dem Einfluß abhängt, den diese Kultur auf den Charakter des Durchschnittsbürgers ausübt. Wenn wir jetzt von der Liebe in der westlichen Kultur sprechen, wollen wir uns daher zunächst fragen, ob die Gesellschaftsstruktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr resultierende Geist der Entwicklung von Liebe förderlich ist. Wir müssen diese Frage verneinen. Kein objektiver Beobachter unseres westlichen Lebens kann bezweifeln, daß die Liebe - die Nächstenliebe, die Mutterliebe und die erotische Liebe - bei uns eine relativ seltene Erscheinung ist und daß einige Formen der Pseudoliebe an ihre Stelle getreten sind, bei denen es sich in Wirklichkeit um ebenso viele Formen des Verfalls der Liebe handelt. Die kapitalistische Gesellschaft gründet sich einerseits auf das Prinzip der politischen Freiheit und andererseits auf den Markt als den Regulator aller wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Beziehungen. Der Markt der Gebrauchsgüter bestimmt die Bedingungen, unter denen diese Gebrauchsgüter ausgetauscht werden, der Arbeitsmarkt reguliert den An- und Verkauf von Arbeitskraft. Nutzbringende Dinge wie auch nutzbringende menschliche Energie werden in Gebrauchsgüter verwandelt, die man ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug entsprechend den Marktbedingungen austauscht. Schuhe zum Beispiel, so nützlich und notwendig sie sein mögen, haben keinen wirtschaftlichen Wert (Tauschwert), wenn auf dem Markt keine Nachfrage danach herrscht. Die menschliche Energie und Geschicklichkeit -98- hat keinen Tauschwert, wenn sie unter den derzeitigen Marktbedingungen nicht gefragt ist. Wer über Kapital verfügt, kann Arbeitskraft kaufen und so einsetzen, daß er sein Kapital gewinnbringend anlegt. Wer nur über Arbeitskraft verfügt, muß sie zu den jeweiligen Marktbedingungen an die Kapitalisten verkaufen, wenn er nicht verhungern will. Diese wirtschaftliche Struktur spiegelt sich in der Hierarchie der Werte wider. Das Kapital dirigiert die Arbeitskraft; angesammelte, tote Dinge besitzen einen höheren Wert als das Lebendige, die menschliche Arbeitskraft und Energie. Dies war von Anfang an die Grundstruktur des Kapitalismus. Obgleich es noch immer auch für den modernen Kapitalismus kennzeichnend ist, haben sich doch inzwischen eine Reihe von Faktoren geändert, die dem heutigen Kapitalismus seine spezifischen Eigenschaften verleihen und einen tiefen Einfluß auf die Charakterstruktur des modernen Menschen ausüben. Die Entwicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, daß wir heute Zeugen eines ständig zunehmenden Prozesses der Zentralisierung und Konzentration des Kapitals sind. Die großen Unternehmen dehnen sich ständig weiter aus, und die kleineren werden von ihnen erdrückt. Die Besitzer des in Großunternehmen investierten Kapitals sind immer seltener zugleich auch die Manager. Hunderttausende von Aktionären »besitzen« das Unternehmen; eine Bürokratie von gutbezahlten Managern, denen das Unternehmen jedoch nicht gehört, verwaltet es. Diese Bürokratie ist weniger an einem maximalen Profit als an der Ausweitung des Unternehmens und der eigenen Macht interessiert. Parallel mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals und dem Aufkommen einer mächtigen Managerbürokratie läuft die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Durch die Organisierung der Arbeiter in den Gewerkschaften braucht der einzelne Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr seine Sache allein auszuhandeln. Er ist in großen Gewerkschaften organisiert, die von einer mächtigen Bürokratie geleitet werden -99- und die ihn gegenüber den Industriekolossen vertreten. Auf dem Gebiet des Kapitals wie auch auf dem Arbeitsmarkt ist die Initiative, mag man das nun begrüßen oder bedauern, vom einzelnen auf die Bürokratie übergegangen. Immer mehr Menschen verlieren ihre Unabhängigkeit und werden von Managern der großen Wirtschaftsimperien abhängig. Ein weiteres entscheidendes Merkmal, das auf diese Konzentration des Kapitals zurückzuführen und das für den modernen Kapitalismus charakteristisch ist, ist die spezifische Art der Arbeitsorganisation. Die weitgehend zentralisierten Unternehmen mit ihrer radikalen Arbeitsteilung führen zu einer Organisation der Arbeit, bei der der einzelne seine Individualität einbüßt und zu einem austauschbaren Rädchen in der Maschinerie wird. Man kann das menschliche Problem des Kapitalismus folgendermaßen formulieren: Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflußt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne daß man Gewalt anwenden müßte, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen. Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. (Vgl. meine ausführliche Diskussion des Problems der Entfremdung und des Einflusses der modernen Gesellschaft auf den menschlichen Charakter in E. Fromm, 1955 a.) Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte -100- als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen Marktbedingungen den größtmöglichen Profit einzub ringen hat. Die menschlichen Beziehungen sind im wesentlichen die von entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag. Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, daß sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz und Einheit, bewußt werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewußte Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln. Der moderne Mensch kommt tatsächlich dem Bild nahe, das Aldous Huxley in seinem Roman Brave New World (1946) beschreibt: Er ist gut genährt, gut gekleidet und sexuell befriedigt, aber ohne Selbst und steht nur in einem höchst oberflächlichen Kontakt mit seinen Mitmenschen. Dabei wird er von Devisen geleitet, die Huxley äußerst treffend formuliert hat: »Wenn der einzelne fühlt, wird die Gesellschaft von Schwindel erfaßt.« Oder: »Verschiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst.« Oder die Krone von allem: »Heutzutage ist jeder glücklich.« Des Menschen Glück besteht heute darin, »seinen Spaß zu haben«. Und man hat seinen Spaß, wenn man sich Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, -101- Zeitschriften, Bücher und Filme »einverleibt«, indem man alles konsumiert, alles verschlingt. Die Welt ist nur noch da zur Befriedigung unseres Appetits, sie ist ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust, und wir sind die Säuglinge, die ewig auf etwas warten, ewig auf etwas hoffen und ewig enttäuscht werden. Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes - geistige wie materielle Dinge - wird zu Objekten des Tausches und des Konsums. Wie nicht anders zu erwarten, ist auch die Liebe vom Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen geprägt. Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen Vorzüge aus und hoffen auf ein faires Geschäft. Einer der signifikantesten Ausdrücke im Zusammenhang mit Liebe und besonders im Zusammenhang mit einer solchermaßen entfremdeten Ehe ist die Idee des »Teams«. In zahllosen Artikeln über die glückliche Ehe wird deren Idealform als ein reibungslos funktionierendes Team beschrieben. Diese Beschreibung unterscheidet sich kaum von der eines reibungslos funktionierenden Angestellten, der »ziemlich unabhängig«, zur Zusammenarbeit bereit, tolerant und gleichzeitig ehrgeizig und aggressiv sein sollte. Dementsprechend soll der Ehemann, wie die Eheberater uns mitteilen, seine Frau »verstehen« und ihr eine Hilfe sein. Er soll ihr neues Kleid und ein schmackhaftes Gericht, das sie ihm vorsetzt, loben. Sie ihrerseits soll Verständnis dafür haben, wenn er müde und schlechtgelaunt heimkommt, sie soll ihm aufmerksam zuhören, wenn er über seine beruflichen Schwierigkeiten redet, und sich nicht ärgern, sondern es verständnisvoll aufnehmen, wenn er ihren Geburtstag vergißt. Beziehungen dieser Art laufen alle auf die gut geölte Beziehung zwischen zwei Menschen hinaus, die sich ihr ganzes Leben lang fremd bleiben, die nie zu einer Beziehung von Personmitte zu Personmitte gelangen, sondern sich lediglich höflich behandeln -102- und versuchen, es dem anderen etwas leichter zu machen. Bei dieser Auffassung von Liebe und Ehe kommt es in erster Linie darauf an, eine Zuflucht vor dem sonst unerträglichen Gefühl des Alleinseins zu finden. In der »Liebe« hat man endlich einen Hafen gefunden, der einen vor der Einsamkeit schützt. Man schließt zu zweit einen Bund gegen die Welt und hält dann diesen égoisme à deux irrtümlich für Liebe und Vertrautheit. Die Betonung des Teamgeistes, der gegenseitigen Toleranz usw. ist eine relativ neue Entwicklung. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte man eine andere Auffassung von der Liebe. Damals hielt man die gegenseitige sexuelle Befriedigung für die Grundlage einer befriedigenden Liebesbeziehung und besonders für die einer glücklichen Ehe. Man glaubte den Grund für die vielen unglücklichen Ehen darin gefunden zu haben, daß die Ehepartner es nicht verstanden, sich sexuell richtig aufeinander einzustellen, und führte dies darauf zurück, daß sie sich sexuell nicht »richtig« zu verhalten wußten, gab also der falschen sexuellen Technik des einen Partners oder beider Partner die Schuld. Um diesen Fehler zu »heilen« und den unglücklichen Partnern, die sich nicht lieben konnten, zu helfen, enthielten viele Bücher Weisungen und erteilten Belehrungen und Ratschläge, wie das sexuelle Verhalten zu korrigieren sei, und versprachen implizit oder explizit, daß Glück und Liebe sich dann schon einstellen würden. Die zugrundeliegende Idee war, daß die Liebe das Kind der sexuellen Lust sei und daß zwei Menschen sich lieben würden, wenn sie erst gelernt hätten, sich gegenseitig sexuell zu befriedigen. Es paßte in die allgemeine Illusion jener Zeit hinein, daß man annahm, durch Anwendung der richtigen Technik könne man nicht nur die technischen Probleme der industriellen Produktion, sondern auch alle menschlichen Probleme lösen. Man erkannte nicht, daß es genau umgekehrt ist. Die Liebe ist nicht das Ergebnis einer adäquaten sexuellen Befriedigung, sondern das sexuelle Glück - ja sogar die -103- Erlernung der sogenannten sexuellen Technik - ist das Resultat der Liebe. Wenn diese These, abgesehen von den Beobachtungen im täglichen Leben, noch eines Beweises bedürfte, so würden die Psychoanalysen reichlich Material dafür liefern. Wenn man die am häufigsten auftretenden sexuellen Probleme untersucht - die Frigidität der Frau und mehr oder weniger schwere Formen psychisch bedingter Impotenz beim Mann -, so erkennt man, daß die Ursache dafür nicht in der mangelnden Kenntnis der richtigen Technik, sondern in den Hemmungen zu suchen ist, die es unmöglich machen zu lieben. Angst oder Haß gegenüber dem anderen Geschlecht liegen diesen Schwierigkeiten zugrunde, die einen Menschen hindern, sich ganz hinzugeben und aus dem Vertrauen auf den Sexualpartner heraus beim unmittelbaren körperlichen Kontakt spontan zu reagieren. Wenn ein sexuell gehemmter Mensch es fertigbringt, sich von seiner Angst oder seinem Haß freizumachen und auf diese Weise fähig wird zu lieben, dann sind seine sexuellen Probleme gelöst. Gelingt es ihm nicht, dann werden ihm auch noch so umfassende Kenntnisse über Sexualtechniken nicht helfen. Während jedoch das aus der psychoanalytischen Therapie gewonnene Material darauf hinweist, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, die Kenntnis der richtigen Sexualtechnik würde zu sexuellem Glück und zur Liebe führen, stand doch die dieser Meinung zugrundeliegende Annahme, die Liebe sei eine Begleiterscheinung der gegenseitigem sexuellen Befriedigung, stark unter dem Einfluß von Freuds Theorien. Für Freud war die Liebe im wesentlichen ein sexuelles Phänomen. »Die Erfahrung, daß die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gebe, müßte es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen« (S. Freud, 1930 a, S. 460). -104- Für Freud ist die Nächstenliebe ein Produkt der sexuellen Begierde, wobei jedoch der Sexualtrieb in einen »zielgehemmten Impuls« verwandelt ist. »Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer« (a.a.O., S. 462). Was das Glück des völligen Einsseins, das »ozeanische Gefühl« betrifft, das das Wesen des mystischen Erlebens ausmacht und das dem intensivsten Gefühl der Vereinigung mit einem anderen Menschen oder mit unseren Mitmenschen zugrunde liegt, so hat Freud es als pathologische Regression, als »Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus« der frühen Kindheit interpretiert (a.a.O., S. 430). Es heißt nur noch einen Schritt weitergehen, wenn für Freud die Liebe an sich ein irrationales Phänomen ist. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen irrationaler Liebe und der Liebe als Ausdruck der reifen Persönlichkeit. In seinen Bemerkungen über die Übertragungsliebe (S. Freud, 1915 a) stellt er die Behauptung auf, die Übertragungsliebe unterscheide sich im wesentlichen nicht von dem »normalen« Phänomen der Liebe. Sich zu verlieben grenze stets ans Abnorme, gehe immer Hand in Hand mit Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, es habe Zwangscharakter und sei eine Übertragung von Liebesobjekten der Kindheit. Als ein rationales Phänomen und als höchster Ausdruck der Reife war die Liebe für ihn kein Forschungsobjekt, da sie keine reale Existenz für ihn besaß. Es wäre jedoch falsch, den Einfluß zu überschätzen, den Freuds Ideen auf die Auffassung ausübten, die Liebe sei das Resultat sexueller Anziehung oder - besser gesagt - sie sei dasselbe wie die im bewußten Gefühl reflektierte sexuelle Befriedigung. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge genau umgekehrt. Teilweise sind Freuds Ideen selbst vom Geist des neunzehnten Jahrhunderts beeinflußt; teils wurden sie durch den nach dem Ersten Weltkrieg herrschenden Zeitgeist populär. Sowohl die damals verbreiteten Anschauungen wie auch Freuds -105- Auffassungen waren erstens die Reaktion auf die strengen Moralbegriffe der Viktorianischen Zeit. Zweitens waren Freuds Ideen von dem damals vorherrschenden Menschenbild geprägt, das von der Struktur des Kapitalismus bestimmt war. Um zu beweisen, daß der Kapitalismus den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entspricht, mußte man nachweisen, daß der Mensch von Natur aus auf Wettbewerb eingestellt und einer des anderen Feind is t. Während die Nationalökonomen dies mit dem unersättlichen Streben nach wirtschaftlichem Gewinn »bewiesen« und die Darwinisten es mit dem biologischen Gesetz vom Überleben des Tüchtigsten begründeten, kam Freud zum gleichen Resultat aufgrund der Annahme, daß der Mann von dem unstillbaren Verlangen erfüllt sei, alle Frauen sexuell zu erobern, und daß ihn nur der Druck der Gesellschaft davon abhalte. Die Folge war seiner Auffassung nach, daß die Männer aufeinander eifersüchtig sein müßten, und er nahm an, daß diese gegenseitige Eifersucht und der Konkurrenzkampf selbst dann noch fortbestehen würden, wenn alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründe dafür verschwunden wären. (Der einzige Schüler Freuds, der sich nie von seinem Meister trennte, der aber trotzdem in seinen letzten Lebensjahren seine Ansichten über die Liebe änderte, war Sándor Ferenczi. Eine ausgezeichnete Erörterung dieses Themas bietet I. de Forest, 1954.) Schließlich war Freud in seinem Denken auch noch weitgehend von der im neunzehnten Jahrhundert herrschenden Richtung des Materialismus beeinflußt. Man glaubte, das Substrat aller geistigseelischen Erscheinungen sei in physiologischen Phänomenen zu suchen. Daher hat Freud Liebe, Haß, Ehrgeiz und Eifersucht sämtlich als Produkte der verschiedenen Formen des Sexualtriebs erklärt. Er erkannte nicht, daß die grundlegende Wirklichkeit die Totalität der menschlichen Existenz ist, die erstens durch die allen Menschen gemeinsame »menschliche Situation« und zweitens durch die Lebenspraxis -106- bestimmt ist, die ihrerseits durch die spezifische Struktur der Gesellschaft determiniert ist. (Marx hat mit seinem »historischen Materialismus« den entscheidenden Schritt vollzogen, der über diese Art von Materialismus hinausführt. Für ihn war nicht der Körper und auch nicht ein Trieb, etwa das Bedürfnis nach Nahrung oder Besitz, der Schlüssel zum Verständnis des Menschen, sondern der gesamte Lebensprozeß des Menschen, seine »Lebenspraxis«.) Nach Freud würde die volle und ungehemmte Befriedigung aller triebhaften Wünsche seelische Gesundheit und Glück verbürgen. Aber die klinischen Fakten zeigen unverkennbar, daß Männer - und Frauen -, die ihr Leben der hemmungslosen sexuellen Befriedigung widmen, nicht glücklich sind und sehr häufig unter schweren neurotischen Konflikten oder Symptomen leiden. Die völlige Befriedigung aller triebhaften Bedürfnisse ist nicht nur kein Fundament des Glücks, sie garantiert nicht einmal seelische Gesundheit. Freuds Idee konnte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nur deshalb so populär werden, weil sich im Geist des Kapitalismus gewisse Veränderungen vollzogen hatten. Das Hauptgewicht wurde nicht mehr auf das Sparen, sondern auf das Geldausgeben gelegt. Anstatt sich einzuschränken, um es wirtschaftlich zu etwas zu bringen strebte man jetzt nach möglichst großem Konsum auf einem sich ständig erweiternden Markt, wo der angsterfüllte automatisierte Einzelmensch seine Hauptbefriedigung fand. Die Befriedigung eines Wunsches unter keinen Umständen hinauszuschieben wurde im Bereich der Sexualität wie beim materiellen Konsum zum herrschenden Prinzip. Es ist interessant, die Freudschen Begriffe, die dem Geist des Kapitalismus entsprechen, wie er zu Anfang unseres Jahrhunderts noch ungebrochen fortbestand, mit den theoretischen Begriffen eines der bedeutendsten zeitgenössischen Psychoanalytiker, des verstorbenen H. S. Sullivan, zu vergleichen. In Sullivans psychoanalytischem System finden wir im Gegensatz -107- zu dem von Freud eine strenge Unterscheidung zwischen Sexualität und Liebe. Was versteht Sullivan unter Liebe und Intimität? »Intimität ist jene Situation zwischen zwei Menschen, welche es ermöglicht, alle Komponenten des persönlichen Wertes voll zur Geltung zu bringen. Dies erfordert eine Art der Beziehung, die ich als Kollaboration bezeichnen möchte, worunter ich die klar umrissene Anpassung des Verhaltens des einen Partners an die zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse des anderen Partners verstehe, mit dem Ziel einer immer mehr identischen, das heißt nahezu gegenseitigen Befriedigung, wobei immer ähnlichere Mittel angewandt werden, um dem anderen ein Gefühl der Sicherheit zu geben« (H. S. Sullivan, 1953, S. 246; hierzu ist zu bemerken, daß Sullivans Definition sich zwar auf die Störungen von Voradoleszenten bezieht, daß er aber von diesen als integrierenden Tendenzen spricht, die während der Voradoleszenz in Erscheinung treten und »die wir, wenn sie voll entwickelt sind, Liebe nennen«, und daß er sagt, diese Liebe in der Voradoleszenz stelle »den Anfang von etwas dar, was der vollentwickelten, psychiatrisch definierten Liebe sehr nahekommt«). Mit noch etwas einfacheren Worten hat Sullivan das Wesen der Liebe als eine Situation der Kollaboration bezeichnet, in der zwei Menschen das Gefühl haben: »Wir halten uns an die Spielregeln, um unser Prestige zu wahren und uns das Gefühl zu erhalten, anderen überlegen zu sein und gewisse Verdienste zu haben« (a.a.O.; eine andere Definition der Liebe, in der Sullivan sagt, die Liebe beginne damit, daß ein Mensch das Gefühl habe, daß die Bedürfnisse des anderen ebenso wichtig seien wie seine eigenen, ist weniger von der Marketing-Orientierung geprägt als die oben erwähnte Formulierung). Genau wie Freuds Vorstellung von der Liebe dem patriarchalischen Mann im Sinne des Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts entspricht, bezieht sich Sullivans -108- Definition auf die Erfahrung der entfremdeten Marketing- Persönlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um die Beschreibung eines egoisme à deux von zwei Menschen, die ihre beiderseitigen Interessen in einen Topf werfen und gegen eine feindliche und entfremdete Welt zusammenstehen. Tatsächlich gilt seine Definition der Intimität im Prinzip für das Gefühl eines jeden zusammenarbeitenden Teams, »in dem jeder sein Verhalten den zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen des anderen in der Verfolgung gemeinsamer Ziele anpaßt« (a.a.O.). (Bemerkenswert ist, daß Sullivan hier von zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen spricht, während man von der Liebe doch zum mindesten sagen müßte, daß sie eine Reaktion zweier Menschen auf ihre unausgesprochenen Bedürfnisse impliziert.) Die Liebe als gegenseitige sexuelle Befriedigung und die Liebe als »Teamwork« und schützender Hafen vor der Einsamkeit sind die beiden »normalen« Formen des Verfalls der Liebe in der modernen westlichen Gesellschaft. Sie stellen die gesellschaftlich bedingte Pathologie der Liebe dar Es gibt viele individuelle Formen pathologischer Liebe, die dazu führen, daß die Betreffenden bewußt leiden und die von Psychiatern und auch von einer immer größeren Zahl von Laien als neurotisch angesehen werden. Ich möchte im folgenden kurz ein paar Beispiele für diese Formen geben. Grundvoraussetzung für die neurotische Liebe ist, daß einer der beiden »Liebenden« oder auch beide noch an eine Elternfigur gebunden sind und daß sie jetzt als Erwachsene die Gefühle, Erwartungen und Ängste, die sich auf den Vater oder die Mutter bezogen, auf die geliebte Person übertragen. Solche Menschen haben diese infantile Bezogenheit nie überwunden und suchen als Erwachsene nach ähnlichen effektiven Beziehungen. In diesen Fällen ist der Betreffende in seinem Gefühlsleben noch ein zwei- oder fünf- oder zwölfjähriges Kind, während er intellektuell und gesellschaftlich auf der Stufe seines wirklichen Alters steht. In schwierigen Fällen führt die -109- emotionale Unreife zu einer Beeinträchtigung der Leistungen innerhalb der Gesellschaft; in weniger schweren Fällen bleibt der Konflikt auf die Sphäre der intimen persönlichen Beziehungen beschränkt. Mit folgendem Beispiel kommen wir noch einmal auf unsere Diskussion der mutter- oder vaterzentrierten Persönlichkeit zurück. Bei dieser heute häufig unzutreffenden neurotischen Liebesbeziehung handelt es sich um Männer, die in bezug auf ihre emotionale Entwicklung in ihrer infantilen Bindung an die Mutter steckengeblieben sind. Es sind Männer, die gleichsam nie von der Mutter entwöhnt wurden. Sie fühlen sich noch immer als Kinder; sie verlangen nach mütterlichem Schutz, nach mütterlicher Liebe, Wärme, Fürsorge und Bewunderung; sie brauchen die bedingungslose Liebe einer Mutter, eine Liebe, die ihnen aus keinem anderen Grund gegeben wird als dem, daß sie das Kind ihrer Mutter sind und daß sie hilflos sind. Solche Männer sind häufig recht zärtlich und charmant, wenn sie versuchen, eine Frau dazu zu bringen, sie zu lieben, und sie bleiben es sogar, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben. Aber ihre Beziehung zu dieser Frau (wie übrigens zu allen anderen Menschen auch) bleibt oberflächlich und ohne Verantwortungsgefühl. Ihr Ziel ist, geliebt zu werden, nicht zu lieben. Solche Männer sind gewöhnlich recht eitel und haben mehr oder weniger versteckt den Kopf voll grandioser Ideen. Wenn sie die richtige Frau gefunden haben, fühlen sie sich sicher und aller Welt überlegen. Sie können dann sehr liebevoll und charmant sein, was der Grund dafür ist, daß man so oft auf sie hereinfällt. Wenn aber dann die Frau nach einiger Zeit ihren phantastischen Erwartungen nicht mehr entspricht, kommt es zu Konflikten und Verstimmungen. Wenn die Frau einen solchen Mann nicht ständig bewundert, wenn sie ihr eigenes Leben leben will, wenn sie selbst geliebt und beschützt werden möchte und wenn sie in extremen Fällen nicht bereit ist, ihm seine Liebesaffären mit anderen Frauen zu verzeihen (oder sogar ein bewunderndes -110- Interesse dafür zu bekunden), dann fühlt er sich zutiefst verletzt und enttäuscht und erklärt gewöhnlich dieses Gefühl damit, daß die Frau ihn nicht liebe und egoistisch und anmaßend sei. Alles, was nicht der Haltung einer liebenden Mutter gegenüber ihrem entzückenden Kind entspricht, wird ihr als mangelnde Liebe ausgelegt. Solche Männer verwechseln gewöhnlich ihr charmantes Verhalten, ihren Wunsch zu gefallen mit echter Liebe und kommen so zu dem Ergebnis, daß sie unfair behandelt werden. Sie halten sich für großartige Liebhaber und beklagen sich bitter über die Undankbarkeit ihres Liebespartners. In seltenen Fällen kann ein solcher Mann, der von seiner Mutterbindung nicht loskommt, ohne schwere Störungen recht gut funktionieren. Wenn seine Mutter ihn tatsächlich auf eine übertrieben besorgte Weise geliebt hat (vielleicht als eine im Haus dominierende, aber nicht destruktive Frau), wenn er selbst eine Ehefrau vom gleichen mütterlichen Typ findet, wenn seine spezifischen Begabungen und Talente ihm die Möglichkeit geben, seinen Charme spielen zu lassen und bewundert zu werden (wie das gelegentlich bei erfolgreichen Politikern der Fall ist), dann ist er gesellschaftlich »gut angepaßt«, ohne jedoch je ein höheres Niveau der Reife zu erreichen. Aber unter weniger günstigen Bedingungen - und das kommt natürlich häufiger vor - wird sein Liebesleben, wenn nicht sogar sein Leben in der Gesellschaft, zu einer schweren Enttäuschung. Wenn dieser Persönlichkeitstyp sich im Stich gelassen fühlt, kommt es zu Konflikten, und er wird häufig von intensiver Angst und von Depressionen befallen. Es gibt eine noch schwerere Form der Erkrankung, bei der die Mutterbindung noch tiefgehender und noch irrationaler ist. Auf dieser Ebene möchte der Betreffende nicht symbolisch in Mutters schützende Arme, nicht an ihre nährende Brust, sondern in ihren allempfangenden - und allzerstörenden - Schoß zurückkehren. Wenn es das Wesen der geistigseelischen Gesundheit ist, aus dem Mutterschoß in die Welt hineinzuwachsen, so ist -111- eine schwere seelische Erkrankung dadurch gekennzeichnet, daß der Betreffende sich zum Mutterschoß hingezogen fühlt, daß er davon wieder aufgesogen und aus dem Leben herausgenommen werden möchte. Zu einer derartigen Mutterbindung kommt es im allgemeinen, wenn Mütter ihre Kinder auf diese verschlingende und destruktive Weise an sich binden. Sie möchten - manchmal im Namen der Liebe, manchmal im Namen der Pflicht - das Kind, den Adoleszenten, den Mann in sich behalten; nur durch sie soll er atmen können; er soll, außer auf einem oberflächlichen sexuellen Niveau, nicht lieben können und alle anderen Frauen damit entwürdigen; er soll nicht frei und unabhängig sein, sondern ein ewiger Krüppel oder ein Verbrecher. Dieser Aspekt der destruktiven, verschlingenden Mutter ist der negative Aspekt der Mutterfigur. Die Mutter kann das Leben geben, und sie kann es auch nehmen. Sie kann beleben und zerstören; sie kann Wunder der Liebe bewirken, und niemand kann so verletzen wie sie. Man findet diese beiden entgegengesetzten Aspekte der Mutter häufig in religiösen Bildnissen (zum Beispiel bei der Hindugöttin Kali) wie auch in Traumsymbolen. Eine andere Form neurotischer Erkrankung findet sich bei Menschen mit einer überstarken Vaterbindung. Ein solcher Fall liegt bei einem Mann vor, dessen Mutter kalt und reserviert ist, während der Vater (teilweise infolge der Gefühlskälte seiner Frau) seine ganze Liebe und sein ganzes Interesse auf den Sohn konzentriert. Er ist ein »guter Vater«, aber zugleich ist er autoritär. Wenn ihm das Verhalten seines Sohnes behagt, lobt er ihn, beschenkt er ihn und behandelt er ihn liebevoll; mißfallt ihm sein Sohn, so zieht er sich von ihm zurück oder tadelt ihn. Der Sohn, der keine andere Zuneigung erfährt als die seines Vaters, gerät in eine sklavische Abhängigkeit von ihm. Sein Hauptlebensziel ist dann, es dem Vater recht zu machen. Gelingt ihm das, so fühlt er sich -112- glücklich, sicher und zufrieden. Macht er jedoch einen Fehler, mißlingt ihm etwas oder gelingt es ihm nicht, dem Vater zu gefallen, so fühlt er sich klein und häßlich, ungeliebt und ausgestoßen. In seinem späteren Leben wird ein solcher Mensch eine Vaterfigur zu finden suchen, an die er sich in ähnlicher Weise anschließt. Sein ganzes Leben wird zu einer Folge von Höhe- und Tiefpunkten, je nachdem, ob es ihm gelingt, das Lob des Vaters zu bekommen. Solche Männer sind in ihrer gesellschaftlichen Laufbahn oft sehr erfolgreich. Sie sind gewissenhaft, zuverlässig, fleißig - vorausgesetzt, die Vaterfigur, die sie sich erwählt haben, versteht sie richtig zu behandeln. In ihren Beziehungen zu Frauen bleiben sie jedoch zurückhaltend und distanziert. Die Frau besitzt für sie keine zentrale Bedeutung, meist verachten sie sie ein wenig, was sie oft hinter der Maske eines väterlichen Interesses auf ein kleines Mädchen verbergen. Zu Anfang haben sie durch ihre Männlichkeit vielleicht Eindruck auf eine Frau gemacht, aber sie werden für die Frau, die sie heiraten, zu einer wachsenden Enttäuschung, wenn diese merkt, daß es ihr Schicksal ist, in bezug auf die Liebe ihres Mannes hinter der Vaterfigur, die in dessen Leben stets die Hauptrolle spielt, zurückstehen zu müssen; anders ist es, wenn sie zufällig selbst eine unaufgelöste Vaterbindung hat und deshalb mit einem Mann glücklich ist, der zu ihr eine Beziehung hat wie zu einem launischen Kind. Komplizierter ist jene Art von neurotischen Störungen in der Liebe, die ihren Grund in einer anderen Elternkonstellation hat, nämlich dann, wenn Eltern einander nicht lieben, aber zu beherrscht sind, um sich zu streiten oder nach außen hin ihre mangelnde Befriedigung merken zu lassen. Ihre distanzierte Haltung macht, daß auch ihrer Beziehung zu ihren Kindern jede Spontaneität abgeht. Ein kleines Mädchen wächst dann in einer Atmosphäre der »Korrektheit« auf, in der es aber mit dem Vater oder der Mutter nie in engen Kontakt kommt, was es in Verwirrung und Angst versetzt. Es ist sich nie sicher, was die -113- Eltern fühlen oder denken; immer ist ein Element des Unbekannten, Mysteriösen in der Atmosphäre. Die Folge ist, daß das kleine Mädchen sich in seine eigene Welt abschließt und später in seinen Liebesbeziehungen die gleiche Haltung einnimmt. Überdies führt dieses Sich-Zurückziehen zu einer intensiven Angst, zu dem Gefühl, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, und hat oft masochistische Tendenzen zur Folge, welche die einzige Möglichkeit sind, intensive Erregungen zu erleben. Oft wäre es solchen Frauen lieber, ihr Mann würde ihnen eine Szene machen und brüllen, als daß er sich immer so normal und vernünftig verhält, weil das wenigstens die Last der Spannung und Angst von ihnen nehmen würden. Nicht selten provozieren sie solche Szenen, um die quälende Spannung zu beenden, die eine affektive Gleichgültigkeit hervorruft. Ich möchte nun im folgenden auf andere häufige Formen irrationaler Liebe zu sprechen kommen, ohne jedoch die ihnen zugrundeliegenden spezifischen Faktoren aus der Kindheitsentwicklung zu analysieren. Eine Form der Pseudoliebe, die nicht selten ist und oft als die »große Liebe« erlebt wird (und die noch öfter in rührenden Filmen und Romanen dargestellt wird), ist die abgöttische Liebe. Wenn jemand noch nicht das Niveau erreicht hat, wo er ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins hat, das sich auf die produktive Entfaltung seiner eigenen Kräfte gründet, neigt er dazu, die geliebte Person zu »vergöttern«. Er wird dann seinen eigenen Kräften entfremdet und projiziert sie auf die geliebte Person, die er als das summum bonum, als Inbegriff aller Liebe, allen Lichts und aller Seligkeit verehrt. Bei diesem Prozeß beraubt er sich völlig des Gefühls von eigener Stärke und verliert sich in der Geliebten, anstatt sich in ihr zu finden. Da in der Regel niemand auf die Dauer die Erwartungen eines so abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muß es zu Enttäuschungen kommen, und man sucht sich mit einem neuen Idol zu -114- entschädigen, manchmal in einem nicht endenden Kreislauf. Kennzeichnend für diese Liebe ist die Intensität und Plötzlichkeit des Liebeserlebnisses. Oft wird diese abgöttische Liebe als die wahre große Liebe bezeichnet. Aber während sie angeblich der Inbegriff einer intensiven, tiefen Liebe ist, spricht aus ihr in Wirklichkeit nur der Hunger und die Verzweiflung des abgöttisch Liebenden. Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, daß nicht selten zwei Menschen in einer gegenseitigen abgöttischen Liebe zusammenfinden, die in Extremfällen das Bild einer folie à deux bietet. Eine andere Form der Pseudoliebe könnte man als sentimentale Liebe bezeichnen. Das Wesentliche dabei ist, daß die Liebe nur in der Phantasie und nicht im Hier und Jetzt in einer Beziehung mit einem realen anderen Menschen erlebt wird. Die am weitesten verbreitete Form dieser Art Liebe findet man in der Ersatzbefriedigung, die der Konsument von Liebesfilmen, von Liebesgeschichten in Zeitschriften und von Liebesliedern erlebt. Alle unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe, Vereinigung und menschlicher Nähe finden im Konsum dieser Produkte ihre Befriedigung. Ein Mann und eine Frau, die in der Beziehung zu ihrem Ehepartner nie fähig waren, die Mauer des Getrenntseins zu überwinden, sind zu Tränen gerührt, wenn sie die glückliche oder unglückliche Liebesgeschichte eines Paares auf der Filmleinwand miterleben. Für viele Paare sind diese Vorführungen auf der Leinwand die einzige Gelegenheit, Liebe zu erleben - nicht Liebe zueinander, sondern als gemeinsame Zuschauer bei der »Liebe« anderer Leute. Solange die Liebe ein Tagtraum ist, können sie an ihr teilhaben, sobald sie aber Wirklichkeit wird und es sich nun um die Beziehung zwischen zwei realen Menschen handelt, erstarren sie zu Eis. Ein anderer Aspekt der sentimentalen Liebe ist der, daß sie vom gegenwärtigen Zustand der Liebe absieht. Da kann es vorkommen, daß ein Paar tief gerührt den Erinnerungen an seine verflossene Liebe nachhängt, obgleich sie damals, als die Vergangenheit -115- Gegenwart war, gar keine Liebe füreinander empfanden oder nur vom Glück zukünftiger Liebe phantasierten. Wie viele Verlobte oder Jungvermählte träumen vom künftigen Liebesglück und fangen bereits jetzt an, sich leid zu werden. Diese Tendenz paßt zur allgemeinen Einstellung, die für den modernen Menschen kennzeichnend ist. Er lebt in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber nicht in der Gegenwart. Er erinnert sich wehmütig an seine Kindheit und an seine Mutter, oder er schmiedet glückverheißende Pläne für die Zukunft. Ob die Liebe aus zweiter Hand erfahren wird, indem man an den erfundenen Erlebnissen anderer teilnimmt, oder ob man sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft entrückt, immer dient diese abstrahierende und entfremdete Form der Liebe als Droge, die die Schmerzen der Wirklichkeit, das Alleinsein und die Abgetrenntheit des einzelnen lindert. Bei einer anderen Form der neurotischen Liebe werden Projektionsmechanismen angewendet, um den eigenen Problemen aus dem Weg zu gehen und sich statt dessen mit den Fehlern und Schwächen der »geliebten« Person zu beschäftigen. Die einzelnen Menschen verhalten sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich wie Gruppen, Nationen oder Religionen. Sie haben ein feines Gespür auch für unwesentliche Mängel des anderen und übersehen dabei mit fröhlicher Unbekümmertheit die eigenen - immer darauf bedacht, dem anderen Vorwürfe zu machen oder ihn zu erziehen. Wenn bei einem Paar das alle beide tun - wie es oft der Fall ist -, verwandelt sich ihre Liebesbeziehung in eine Beziehung gegenseitiger Projektionen. Wenn ich herrschsüchtig, unentschlossen oder habgierig bin, werfe ich es meinem Partner vor, um ihn - je nach meinem Charakter entweder davon zu heilen oder dafür zu strafen. Der andere tut dasselbe, und auf diese Weise gelingt es beiden, die eigenen Probleme zu übersehen, und sie unternehmen daher auch keinerlei Schritte, die ihnen in ihrer eigenen Entwicklung weiterhelfen würden. -116- Eine weitere Form der Projektion ist die Projektion der eigenen Probleme auf die Kinder. Gar nicht selten können wir derartige Projektionen bereits bei dem Wunsch nach eigenen Kindern beobachten. In solchen Fällen entspricht der Wunsch nach Kindern in erster Linie dem Bestreben, das eigene Existenzproblem auf das Leben der Kinder zu projizieren. Wenn jemand das Gefühl hat, daß es ihm nicht gelungen ist, seinem Leben einen Sinn zu geben, versucht er, den Sinn seines Lebens im Leben seiner Kinder zu finden. Aber dieses wird zwangsläufig für einen selbst und hinsichtlich der Kinder scheitern. Für einen selbst scheitert es, weil jeder sein Existenzproblem nur für sich selbst lösen und sich dabei keines Stellvertreters bedienen kann; hinsichtlich der Kinder scheitert es, weil es einem eben an jenen Eigenschaften fehlt, die man brauchte, um die Kinder auf deren eigener Suche nach einer Antwort anleiten zu können. Kinder müssen auch für Projektionen herhalten, wenn es darum geht, eine unglückliche Ehe aufzulösen. Das Hauptargument, das die Eltern in dieser Situation zur Hand haben, lautet, daß sie sich nicht trennen könnten, weil sie die Kinder nicht der Segnungen eines intakten Elternhauses berauben wollen. Bei jeder genaueren Untersuchung würde sich jedoch herausstellen, daß die spannungsgeladene, unglückliche Atmosphäre einer solchen »intakten« Familie den Kindern mehr schadet als ein offener Bruch, der sie wenigstens lehrt, daß der Mensch in der Lage ist, eine unerträgliche Situation durch einen mutigen Entschluß zu beenden. Noch ein anderer häufiger Irrtum ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, nämlich die Illusion, Liebe bedeute notwendigerweise, daß es niemals zu Konflikten komme. Genauso wie Menschen gewöhnlich meinen, Schmerz und Traurigkeit müßten unter allen Umständen vermieden werden, so glauben sie auch, Liebe bedeute das Fehlen jeglicher Konflikte. Sie haben auch allen Grund zu dieser Annahme, weil -117- die Streitigkeiten in ihrer Umgebung offenbar nichts als destruktive Auseinandersetzungen sind, die keinem der Beteiligten irgendeinen Nutzen bringen. Die Ursache hierfür ist jedoch, daß die »Konflikte« der meisten Menschen in Wirklichkeit Versuche darstellen, den wirklichen Konflikten auszuweichen. Es sind Meinungsverschiedenheiten über geringfügige, nebensächliche Dinge, die sich ihrer Natur nach nicht dazu eignen, etwas klarzustellen oder zu einer Lösung zu kommen. Wirkliche Konflikte zwischen zwei Menschen, die nicht dazu dienen, etwas zu verdecken oder auf den anderen zu projizieren, sondern die in der Tiefenschicht der inneren Wirklichkeit, zu der sie gehören, erlebt werden, sind nicht destruktiv. Sie dienen der Klärung und führen zu einer Katharsis, aus der beide Partner wissender und gestärkt hervorgehen. Damit kommen wir wieder auf etwas zurück, das wir bereits dargelegt haben. Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also jeder sich selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses »Leben aus der Mitte« ist menschliche Wirklichkeit, nur hier ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für Liebe. Die so erfahrene Liebe ist eine ständige Herausforderung; sie ist kein Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen, zu wachsen, zusammenzuarbeiten. Ob Harmonie waltet, oder ob es Konflikte gibt, ob Freude oder Traurigkeit herrschen, ist nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache, daß zwei Menschen sich vom Wesen ihres Seins her erleben, daß sie miteinander eins sind, indem sie mit sich selbst eins sind, anstatt vor sich selber auf der Flucht zu sein. Für die Liebe gibt es nur einen Beweis: die Tiefe der Beziehung und die Lebendigkeit und Stärke in jedem der Liebenden. Das allein ist die Frucht, an der die Liebe zu erkennen ist. Ebensowenig wie Automaten einander lieben können, können sie Gott lieben. Der Verfall der Gottesliebe hat die gleichen -118- Ausmaße angenommen wie der Verfall der Menschenliebe. Die Tatsache steht in schreiendem Widerspruch zu der Idee, daß wir in der gegenwärtigen Epoche eine religiöse Wiedergeburt erleben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Von gewissen Ausnahmen abgesehen, erleben wir einen Rückfall in eine götzendienende Gottesvorstellung und die Umwandlung der Liebe zu Gott in eine Beziehung, die zu einer entfremdeten Charakterstruktur paßt. Die Regression auf eine götzenhafte Gottesvorstellung ist leicht zu erkennen. Die Menschen haben Angst, sie besitzen weder Grundsätze noch Glauben und finden sich ohne Ziel, außer dem einen, immer weiter voranzukommen. Daher bleiben sie Kinder, um hoffen zu können, daß Vater oder Mutter ihnen schon zu Hilfe kommen werden, wenn sie Hilfe brauchen. Es ist zwar wahr, daß in religiösen Kulturen wie der des Mittelalters der Durchschnittsmensch in Gott auch einen hilfreichen Vater und eine Mutter gesehen hat; gleichzeitig aber nahm er Gott ernst in dem Sinn, daß es das letzte Ziel seines Lebens ist, nach Gottes Geboten zu leben, und daß die Erlangung des »Heils« sein höchstes Anliegen ist, dem er alle anderen Betätigungen unterordnet. Heute ist von solchem Bemühen nichts zu merken. Das tägliche Leben wird streng von allen religiösen Wertvorstellungen getrennt. Man widmet es dem Streben nach materiellem Komfort und nach Erfolg auf dem Personalmarkt. Die Grundsätze, auf die unsere weltlichen Bemühungen sich gründen, sind Gleichgültigkeit und Egoismus (wobei letzterer oft als »Individualismus« oder als »individuelle Initiative« bezeichnet wird). Menschen aus wahrhaft religiösen Kulturen kann man mit achtjährigen Kindern vergleichen, die zwar noch einen Vater brauchen, der ihnen hilft, die aber schon damit anfangen, sich seine Lehren und Prinzipien selbst zu eigen zu machen. Der heutige Mensch ist eher wie ein dreijähriges Kind, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, aber das sich sonst durchaus selbst genug ist, wenn es nur spielen kann. -119- In dieser Hinsicht befinden wir uns in einer infantilen Abhängigkeit von einem anthropomorphen Gottesbild. Wir denken dabei nicht daran, unser Leben entsprechend Gottes Geboten zu ändern, und stehen daher einem primitiven Götzendienst treibenden Stamm näher als der religiösen Kultur des Mittelalters. Andererseits weist unsere religiöse Situation Züge auf, die neu sind und die nur unsere heutige westliche kapitalistische Gesellschaft kennzeichnen. Ich kann mich hier auf Feststellungen beziehen, die ich bereits an früherer Stelle in diesem Buch gemacht habe. Der moderne Mensch hat sich in eine Ware verwandelt; er erlebt seine Lebensenergie als Investition, mit der er entsprechend seiner Stellung und seiner Situation auf dem Personalmarkt einen möglichst hohen Profit erzielen möchte. Er ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. Sein Hauptziel ist, mit seinen Fertigkeiten, seinem Wissen und sich selbst, kurz: mit seiner »Persönlichkeit«, ein möglichst gutes Geschäft zu machen mit anderen, die genau wie er an einem fairen und gewinnbringenden Tauschhandel interessiert sind. Sein Leben hat kein Ziel außer dem einen: voranzukommen; keinen Grundsatz außer dem einen: ein faires Tauschgeschäft zu machen; und er kennt keine Befriedigung außer der einen: zu konsumieren. Was kann der Gottesbegriff unter diesem Umständen noch bedeuten? Seine ursprüngliche religiöse Bedeutung hat sich so gewandelt, daß er jetzt in die entfremdete Kultur des Erfolgs hineinpaßt. In jüngster Zeit hat man in der religiösen »Erneuerung« den Glauben an Gott in eine psychologische Methode umgewandelt, die einen für den Konkurrenzkampf noch besser ausrüsten soll. Die Religion verbündet sich mit der Autosuggestion und der Psychotherapie, um dem Menschen bei seinen Geschäften behilflich zu sein. In den zwanziger Jahren hatte man Gott noch nicht bemüht, um seine »Persönlichkeit« aufzupolieren. Der Bestseller von 1938, Dale Carnegies How to Win Friends and Influence People (Wie man Freunde gewinnt und Menschen -120- beeinflußt), blieb auf streng weltlicher Ebene. Heute hat unser berühmtester Bestseller The Power of Positive Thinking (Die Macht des positiven Denkens) von Pfarrer N. V. Peale die Funktion von Carnegies Buch übernommen. In diesem religiösen Buch wird nicht einmal gefragt, ob unser Hauptinteresse, das dem Erfolg gilt, auch dem Geist des monotheistischen Glaubens entspricht. Ganz im Gegenteil wird dieses höchste Ziel niemals angezweifelt. Der Glaube an Gott und das Gebet werden als ein Mittel empfohlen, seine Erfolgsmöglichkeiten noch zu vergrößern. Genauso wie moderne Psychiater dem Angestellten empfehlen, glücklich zu sein, um anziehender auf die Kundschaft zu wirken, gibt es Geistliche, die den Rat geben, Gott zu lieben, um erfolgreicher zu werden. »Mache Gott zu deinem Partner« bedeutet, man solle Gott zu seinem Geschäftspartner machen, anstatt eins mit Gott zu werden in Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit. Genauso wie die biblische Nächstenliebe durch die unpersönliche Fairneß ersetzt wurde, hat man Gott in einen weit entfernten Generaldirektor der Universum GmbH verwandelt. Man weiß zwar, daß es ihn gibt, er schmeißt den Laden (wenngleich der Laden vermutlich auch ohne ihn laufen würde), man bekommt ihn nie zu sehen, aber man erkennt ihn als Chef an, und man tut seine Pflicht
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