Die Praxsis der Liebe

von Rico Loosli Webmaster "project ch-swiss"
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Die Praxis der Liebe


Nachdem wir uns bisher mit dem theoretischen Aspekt der
Kunst des Liebens befaßt haben, stehen wir jetzt vor dem weit
schwierigeren Problem, wie man die Kunst des Liebens in die
Praxis umsetzen kann. Kann man überhaupt etwas über die
Ausübung einer Kunst lernen, außer indem man sie selbst
ausübt?
Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß heute die
meisten Menschen - und demnach auch die Leser dieses Buches
- erwarten, daß man ihnen Doityourself-Rezepte gibt, was in
unserem Fall heißt, daß sie eine praktische Anleitung in der
Kunst des Liebens erwarten. Ich fürchte, daß jeder, der das von
diesem letzten Kapitel erwartet, schwer enttäuscht sein wird.
Lieben ist eine persönliche Erfahrung, die jeder nur für sich
allein haben kann; tatsächlich gibt es ja auch kaum jemand, der
diese Erfahrung nicht wenigstens in rudimentärer Form als
Kind, als Adoleszent oder als Erwachsener gehabt hätte. Wenn
wir hier die Praxis der Liebe diskutieren, so können wir nur ihre
Prämissen erörtern, die Wege, die zu ihr hinführen, und wie man
sich in bezug auf diese Prämissen und Zugangswege zu
verhalten hat. Die Schritte zu diesem Ziel hin kann jeder nur für
sich allein tun, und die Diskussion endet, bevor der
entscheidende Schritt getan ist. Dennoch glaube ich, daß die
Diskussion der Zugangswege helfen könnte, die Kunst
beherrschen zu lernen - wenigstens denen, die keine fertigen
Rezepte erwarten.
Die Ausübung einer jeden Kunst hat gewisse allgemeine
Voraussetzungen, ganz gleich ob es sich um die Tischlerkunst,
die Medizin oder die Kunst der Liebe handelt. Vor allem
erfordert die Ausübung einer Kunst Disziplin. Ich werde es nie
zu etwas bringen, wenn ich nicht diszipliniert vorgehe. Tue ich
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nur dann etwas, wenn ich gerade »in Stimmung« bin, so kann
das für mich ein nettes oder unterhaltsames Hobby sein, doch
niemals werde ich in dieser Kunst ein Meister werden. Aber es
geht nicht nur um die Disziplin bei der Ausübung einer
bestimmten Kunst (zum Beispiel darum, sich jeden Tag einige
Stunden lang darin zu üben), sondern man sollte sich in seinem
gesamten Leben um Disziplin bemühen. Man sollte meinen, für
den modernen Menschen sei nichts leichter zu lernen als
Disziplin. Verbringt er nicht täglich acht Stunden auf denkbar
disziplinierte Weise bei seinem Job, den er nach einer strengen
Routine erledigt? Tatsächlich jedoch zeigt der moderne Mensch
außerhalb der Sphäre seiner Berufsarbeit nur äußerst wenig
Selbstdisziplin. Wenn er nicht arbeitet, möchte er faulenzen und
sich herumräkeln oder - etwas netter ausgedrückt - sich
»entspannen«. Daß man faulenzen möchte, ist aber großenteils
nichts anderes als eine Reaktion darauf, daß unser Leben durch
und durch zur Routine geworden ist. Eben weil der Mensch sich
acht Stunden am Tag gezwungen sieht, seine Energie auf
Zwecke zu verwenden, die nicht seine eigenen sind, bei einer
Arbeitsweise, die er sich nicht selbst aussuchen kann, sondern
die ihm vom Arbeitsrhythmus vorgeschrieben wird, begehrt er
auf, und sein Aufbegehren nimmt die Form eines kindlichen
Sichgehenlassens an. Außerdem ist er im Kampf gegen
autoritäre Systeme mißtrauisch geworden gegen jede Art von
Disziplin, ganz gleich, ob sie ihm von einer irrationalen
Autorität aufgezwungen wird oder ob er sie sich
vernünftigerweise selbst auferlegen sollte. Ohne Disziplin aber
wird das Leben zersplittert und chaotisch, und es fehlt ihm an
Konzentration.
Daß diese Konzentration eine unumgängliche Vorbedingung
für die Meisterschaft in einer Kunst ist, bedarf kaum eines
Beweises. Jeder, der jemals eine Kunst zu erlernen versuchte,
weiß das. Trotzdem ist aber die Konzentration in unserer Kultur
sogar noch seltene r als die Selbstdisziplin. Ganz im Gegenteil
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führt unsere Kultur zu einer unkonzentrierten, zerstreuten
Lebensweise, für die es kaum eine Parallele gibt. Man tut
vielerlei gleichzeitig. Zu gleicher Zeit liest man, hört man
Radio, redet, raucht, ißt und trinkt. Wir sind die Konsumenten
mit dem stets geöffneten Mund, begierig und bereit, alles zu
verschlingen - Bilder, Schnaps und Wissen. Dieser Mangel an
Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, daß es
uns schwerfallt, mit uns allein zu sein. Stillzusitzen, ohne zu
reden, zu rauchen, zu lesen und zu trinken, ist den meisten
Menschen unmöglich. Sie werden nervös und zappelig und
müssen etwas tun - mit dem Mund oder den Händen. Das
Rauchen ist eines der Symptome dieses Mangels an
Konzentrationsfähigkeit; es beschäftigt Hände, Mund, Augen
und Nase zugleich.
Eine dritte Voraussetzung ist die Geduld. Wiederum weiß
jeder, der jemals eine Kunst zu meistern versuchte, daß man
Geduld haben muß, wenn man etwas erreichen will. Wenn man
auf rasche Erfolge aus ist, lernt man eine Kunst nie. Aber für
den modernen Menschen ist es ebenso schwer, Geduld zu haben,
wie Disziplin und Konzentration aufzubringen. Unser gesamtes
Industriesystem ist genau dem Gegenteil förderlich: der
Geschwindigkeit. Alle unsere Maschinen sind auf
Geschwindigkeit hin konstruiert; Auto und Flugzeug bringen
uns schnell zu unserem Bestimmungsort - je schneller, um so
besser. Die Maschine, die die gleiche Quantität in der halben
Zeit produziert, ist doppelt so gut wie die ältere, langsamere.
Natürlich hat das wichtige wirtschaftliche Gründe. Aber wie auf
so vielen anderen Gebieten werden auch hier menschliche Werte
von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Was für die
Maschine gut ist, muß auch für den Menschen gut sein - so
lautet der logische Schluß. Der moderne Mensch meint, er
würde etwas verlieren - nämlich Zeit -, wenn er nicht alles
schnell erledigt; und dann weiß er nicht, was er mit der
gewonnenen Zeit anfangen soll - und er schlägt sie tot.
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Schließlich gehört auch noch zu den Vorbedingungen für die
Erlernung einer Kunst, daß es einem sehr wichtig ist, darin
Meister zu werden. Wenn die Kunst dem Lehrling nicht von
großer Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Er wird
bestenfalls ein guter Dilettant, aber niemals ein Meister darin
werden. Es ist dies auch für die Kunst der Liebe eine ebenso
wichtige Vorbedingung wie für jede andere Kunst. Es sieht aber
so aus, als ob in der Kunst des Liebens noch mehr als in anderen
Künsten die Dilettanten gegenüber den Meistern in der Überzahl
wären.
Im Hinblick auf die allgemeinen Voraussetzungen für die
Erlernung einer Kunst ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen.
Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, sondern sozusagen
auf indirekte Weise. Man muß oft zuerst eine große Anzahl
anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun
haben, bevor man mit der eigentlichen Kunst anfangt. Ein
Tischlerlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein angehender
Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling in der Zen-Kunst
des Bogenschießens fängt mit Atemübungen an. (Um ein Bild
von der Konzentration, Disziplin, Geduld und Hingabe zu
gewinnen, die zur Erlernung einer Kunst erforderlich sind,
möchte ich den Leser auf Herrigels Zen in der Kunst des
Bogenschießens [E. Herrigel, 1960] hinweisen.) Wenn man in
irgendeiner Kunst zur Meisterschaft gelangen will, muß man ihr
sein ganzes Leben widmen oder es doch wenigstens darauf
ausrichten. Unsere gesamte Persönlichkeit muß zu einem
Instrument zur Ausübung der Kunst werden und muß je nach
den speziellen Funktionen, die es zu erfüllen gilt, in Form
gehalten werden. Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das,
daß jeder, der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in
jeder Phase seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld
praktisch üben muß.
Wie übt man sich in Disziplin? Unsere Großväter wären weit
besser in der Lage gewesen, diese Frage zu beantworten. Sie
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hätten uns empfohlen, morgens früh aufzustehen, keinen
unnötigen Luxus zu treiben und hart zu arbeiten. Diese Art von
Disziplin hatte jedoch auch ihre offensichtlichen Nachteile. Sie
war starr und autoritär, sie stellte die Tugenden der
Genügsamkeit und Sparsamkeit in den Mittelpunkt und war in
vieler Hinsicht lebensfeindlich. Aber als Reaktion auf diese Art
von Disziplin besteht heute in zunehmendem Maße die Tendenz,
jeder Art von Disziplin mit Argwohn zu begegnen und in einem
undisziplinierten, trägen Sichgehenlassen einen Ausgleich für
die Routine zu suchen, die uns während unseres achtstündigen
Arbeitstages aufgezwungen wird. Morgens regelmäßig zur
gleichen Zeit aufstehen, sich täglich eine bestimmte Zeit mit
Tätigkeiten wie Meditieren, Lesen, Musik hören und
Spazierengehen beschäftigen; nicht über ein gewisses
Mindestmaß hinaus Ablenkung durch Kriminalromane und
Filme suchen und nicht zuviel essen und trinken, das wären
einige auf der Hand liegende Grundregeln. Wesentlich ist
jedoch, daß man Disziplin nicht wie etwas übt, das einem von
außen aufgezwungen wird, sondern daß sie zum Ausdruck des
eigenen Wollens wird, daß man sie als angenehm empfindet und
daß man sich allmählich ein Verhalten angewöhnt, das man
schließlich vermissen würde, wenn man es wieder aufgeben
sollte. Es gehört zu den bedauerlichen Aspekten unserer
westlichen Auffassung von Disziplin (wie übrigens von jeder
Tugend), daß man sie für recht mühsam hält und daß man meint,
sie könne nur etwas »Gutes« sein, wenn sie einem schwerfällt.
Der Osten hat schon vor langer Zeit erkannt, daß das, was dem
Menschen guttut - seinem Körper und seiner Seele -, ihm auch
angenehm sein muß, auch wenn zu Anfang einige Widerstände
zu überwinden sind.
Sich zu konzentrieren ist in unserer Kultur noch weit
schwieriger, wo alles der Konzentrationsfähigkeit entgegenzuwirken
scheint. Der wichtigste Schritt dazu ist, zu lernen, mit
sich selbst allein zu sein, ohne zu lesen, Radio zu hören, zu
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rauchen oder zu trinken. Tatsächlich bedeutet sich konzentrieren
zu können dasselbe wie mit sich allein sein zu können - und
ebendiese Fähigkeit ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu
lieben. Wenn ich an einem anderen Menschen hänge, weil ich
nicht auf eigenen Füßen stehen kann, kann er vielleicht mein
Lebensretter sein, aber unsere Beziehung ist keine Liebe.
Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein sein zu können, die
Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Jeder, der versucht,
mit sich allein zu sein, wird entdecken, wie schwer das ist. Er
wird eine innere Unruhe verspüren, wird zappelig werden und
sogar Angst bekommen. Er wird bald keine Lust mehr haben,
mit dieser Übung fortzufahren, und wird die Unlust damit
rationalisieren, daß es ja doch keinen Wert habe, daß es dummes
Zeug sei, daß es zuviel Zeit in Anspruch nehme und dergleichen
Gründe mehr. Außerdem wird er beobachten, daß ihm allerlei
Gedanken durch den Kopf gehen und von ihm Besitz ergreifen.
Er wird merken, daß er Pläne für den restlichen Teil des Tages
macht, daß er über irgendwelche beruflichen Schwierigkeiten
nachdenkt oder darüber, wo er den Abend verbringen könnte. Er
wird sich den Kopf mit vielen Dingen füllen, statt sich einmal
davon zu befreien. Dabei können ein paar sehr einfache
Übungen helfen, wie zum Beispiel in entspannter Haltung (ohne
sich zu räkeln, aber auch nicht verkrampft) dasitzen, die Augen
schließen, versuchen, sich eine weiße Fläche vorzustellen und
dabei alle störenden Bilder und Gedanken auszuschalten. Dann
sollte man das eigene Atmen verfolgen; man sollte nicht darüber
nachdenken und es auch nicht gewaltsam beeinflussen, sondern
es einfach verfolgen - und es auf diese Weise »spüren«. Ferner
sollte man versuchen, sein »Ich« zu erfüllen; Ich = mein Selbst
als Zentrum all meiner Kräfte, als Schöpfer meiner Welt. Solche
Konzentrationsübungen sollte man jeden Morgen wenigstens
zwanzig Minuten lang machen (wenn möglich, noch länger)
sowie allabendlich vor dem Schlafengehen. (Während dies in
den östlichen Kulturen, vor allem in der indischen, in Theorie
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und Praxis schon immer eine beträchtliche Rolle spielt, verfolgt
man in den letzten Jahren auch im Westen ähnliche Ziele. Die
wichtigste Schule ist meiner Ansicht nach die von Gindler,
deren Ziel es ist, ein Gefühl für den eigenen Körper zu
erwerben. Zur Gindler-Methode vgl. auch Charlotte Seivers
Beitrag in ihren Vorlesungen und Kursen an der New Yorker
New School.)
Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem,
was man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch
liest, sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert.
Nur das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns
interessieren, und wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn
man sich so auf etwas konzentriert, spielt es kaum eine Rolle,
was man tut. Dann nehmen alle Dinge, die wichtigen wie die
unwichtigen, eine neue Dimension in der Wirklichkeit an, weil
wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Wenn man
lernen will, sich zu konzentrieren, sollte man triviale
Unterhaltungen, das heißt solche, die nicht echt sind, möglichst
meiden. Wenn zwei Menschen miteinander über das Wachstum
eines Baumes, den sie beide kennen, oder über den Geschmack
des Brotes, das sie gerade gegessen haben, oder über ein
gemeinsames berufliches Erlebnis reden, so kann eine solche
Unterhaltung durchaus relevant sein, vorausgesetzt, daß sie das,
worüber sie reden, wirklich erlebt haben und sich nicht auf
abstrakte Weise damit befassen; andererseits kann sich eine
Unterhaltung um Politik oder um religiöse Fragen drehen und
trotzdem trivial sein. Dies ist der Fall, wenn beide
Gesprächspartner in Gemeinplätzen miteinander reden und bei
dem, was sie sagen, mit dem Herzen nicht dabei sind.
Hinzuzufügen wäre noch, daß man nicht nur keine trivialen
Unterhaltungen führen, sondern daß man auch schlechte
Gesellschaft möglichst meiden sollte. Unter schlechter
Gesellschaft verstehe ich nicht nur lasterhafte und destruktive
Menschen; ihnen sollte man aus dem Weg gehen, weil sie eine
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vergiftete und deprimierende Atmosphäre um sich verbreiten.
Ich meine auch die Gesellschaft von Menschen, die innerlich
abgestorben sind, deren Seele tot ist, obgleich ihr Körper noch
lebt, von Menschen, deren Gedanken und deren Unterhaltung
trivial sind, die schwätzen, anstatt zu reden, und die
Gemeinplätze statt eigene Gedanken vorbringen. Freilich ist es
nicht immer möglich, die Gesellschaft solcher Leute zu meiden,
und es ist auch gar nicht notwendig. Wenn man ihnen nicht in
der erwarteten Weise mit Gemeinplätzen und Belanglosigkeiten
antwortet, sondern unmittelbar und menschlich reagiert, wird
man oft erleben, daß auch sie ihr Verhalten ändern, und das oft
aufgrund des Überraschungseffekts, den der Schock des
Unerwarteten bei ihnen auslöst.
Auf andere konzentriert zu sein heißt vor allem, zuhören zu
können. Die meisten hören sich an, was andere sagen, oder
erteilen ihnen sogar Ratschläge, ohne ihnen wirklich zuzuhören.
Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und
genausowenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten. Die
Folge ist, daß das Gespräch sie ermüdet. Sie bilden sich ein, es
würde sie noch mehr ermüden, wenn sie konzentriert zuhörten,
aber das Gegenteil trifft zu. Jede konzentriert ausgeführte
Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine
natürliche und wohltuende Müdigkeit einsetzt), während jede
unkonzentrierte Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur
Folge hat, daß man abends dann schlecht einschläft.
Konzentriert sein heißt ganz in der Gegenwart, im Hier und
Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, bereits an das
nächste denken, das anschließend zu tun ist. Es versteht sich von
selbst, daß Konzentration vor allem von Menschen geübt
werden muß, die sich lieben. Sie müssen lernen, einander nahe
zu sein, ohne gleich irgendwie wieder voneinander wegzulaufen,
wie das gewöhnlich geschieht. Zu Anfang wird es schwerfallen,
sich in der Konzentration zu üben; man wird das Gefühl haben,
es werde einem nie gelingen. Daß Geduld dazu nötig ist, braucht
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man kaum zu betonen. Wenn man nicht weiß, daß alles seine
Zeit hat, und die Dinge erzwingen will, wird man freilich die
Konzentration nie erlernen - auch nicht in der Kunst des
Liebens. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will,
was Geduld ist, braucht man nur ein Kind beim Laufenlernen zu
beobachten. Es fällt hin und fällt immer und immer wieder hin
und versucht es doch von neuem; es gelingt ihm immer besser,
bis es eines Tages laufen kann, ohne hinzufallen. Was könnte
der Erwachsene alles fertigbringen, wenn er bei Dingen, die ihm
wichtig sind, die Geduld und Konzentration eines Kindes hätte!
Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein
Gespür für sich selbst erwirbt. Was heißt das? Sollte man die
ganze Zeit über sich selbst nachdenken, sollte man sich selbst
analysieren oder was sonst? Wenn wir sagen wollten, daß man
für eine Maschine ein Gespür haben müsse, dürfte es uns kaum
schwerfallen, zu erklären, was wir damit meinen. So hat zum
Beispiel jeder, der einen Wagen fährt, ein Gespür für ihn. Er
spürt auch das geringste ungewohnte Geräusch und die geringste
Änderung im Beschleunigungsvermögen des Motors. Ebenso
spürt der Fahrer jede Veränderung in der Fahrbahnoberfläche,
und er spürt, was die Autos vor und hinter ihm machen. Über all
das denkt er nicht nach; er befindet sich in einem Zustand
entspannter Aufmerksamkeit, in dem er aufgeschlossen ist für
alle relevanten Veränderungen der Situation, auf die er sich
konzentriert - nämlich seinen Wagen sicher zu fahren.
Wenn wir uns nach einer Situation umsehen, wo ein Mensch
ein Gespür für den anderen hat, so finden wir das deutlichste
Beispiel im Verhältnis der Mutter zu ihrem Baby. Sie bemerkt
gewisse körperliche Veränderungen, Wünsche und Nöte ihres
Kindes bereits, bevor es diese offen äußert. Sie wacht auf, wenn
das Kind schreit, während andere, viel lautere Geräusche sie
nicht wecken würden. All das bedeutet, daß sie ein Gespür für
die Lebensäußerungen ihres Kindes hat; sie ist nicht ängstlich
oder besorgt, sondern befindet sich in einem wachen
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Ruhezustand, in dem sie für jede bedeutsame Mitteilung, die
von ihrem Kind kommt, aufnahmebereit ist. Auf gleiche Weise
kann man auch für sich selbst ein Gespür haben. Man merkt
zum Beispiel, daß man müde oder deprimiert ist, und anstatt
diesem Gefühl nachzugeben und es durch trübe Gedanken, die
stets zur Hand sind, noch zu verstärken, fragt man sich: »Was ist
mit mir los? Warum bin ich so deprimiert?« Dasselbe geschieht,
wenn man merkt, daß man irritiert oder ärgerlich ist oder daß
man vor sich hin träumt und sonstwie vor etwas auf der Flucht
ist. In allen diesen Fällen kommt es darauf an, die wahre
Ursache zu spüren und nicht auf tausenderlei Weise seine
Zuflucht zu Rationalisierungen zu nehmen. Wir sollten auf
unsere innere Stimme hören, die uns - oft recht schnell - sagt,
weshalb wir so unruhig, deprimiert oder irritiert sind.
Der Durchschnittsmensch hat ein gewisses Gespür für die
Prozesse, die sich in seinem Körper abspielen; er bemerkt
Veränderungen, selbst einen geringfügigen Schmerz; zu dieser
Art von körperlichem Gespür kommt es relativ leicht, da die
meisten Menschen eine Vorstellung davon haben, wie man sich
fühlt, wenn es einem gut geht. Das gleiche Gespür in bezug auf
geistige Prozesse ist weit seltener, da die meisten Menschen
niemals jemand kennengelernt haben, der optimal funktioniert.
Sie nehmen die Art, wie ihre Eltern und Verwandten oder die
gesellschaftliche Gruppe, in die sie hineingeboren wurden,
seelisch funktionieren, für die Norm, und solange sie selbst nicht
davon abweichen, haben sie das Gefühl, normal zu sein, und
haben kein Interesse daran, zu beobachten. So gibt es zum
Beispiel viele, die noch nie einen liebenden Menschen oder
einen Menschen gesehen haben, der Integrität, Mut oder
Konzentrationsfähigkeit besitzt. Es liegt auf der Hand, daß man,
um für sich selbst ein Gespür zu bekommen, eine Vorstellung
davon haben muß, was unter dem vollkommen gesunden
Funktionieren eines Menschen zu verstehen ist und wie soll man
zu dieser Erfahrung gelangen, wenn man sie in seiner Kindheit
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oder im späteren Leben nie gemacht hat? Diese Frage is t gewiß
nicht einfach zu beantworten, aber sie weist auf einen sehr
kritischen Punkt in unserem Erziehungssystem hin.
Über der Vermittlung von Wissen geht uns jene Art zu lehren
verloren, die für die menschliche Entwicklung am allerwichtigsten
ist: die einfache Gegenwart eines reifen, liebenden
Menschen. In früheren Epochen unserer Kultur oder in China
und Indien schätzte man einen Menschen mit hervorragenden
seelischen und geistigen Eigenschaften am höchsten. Auch der
Lehrer hatte nicht in erster Linie die Aufgabe, Wissen zu
vermitteln, sondern er sollte bestimmte menschliche Haltungen
lehren. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft - und
dasselbe gilt auch für den russischen Kommunismus - werden
keineswegs Menschen mit hervorragenden geistigen und
seelischen Qualitäten als Gegenstand unserer Bewunderung und
als Vorbild hingestellt. Im Licht der Öffentlichkeit stehen im
wesentlichen Leute, die dem Durchschnittsbürger stellvertretend
ein Gefühl der Befriedigung geben. Filmstars, Showmaster
Kolumnisten, einflußreiche Geschäftsleute oder Spitzenpolitiker
- das sind die Vorbilder, denen wir nacheifern. Ihre
Hauptqualifikation besteht oft darin, daß es ihnen gelungen ist,
in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen. Aber die Lage
erscheint trotzdem nicht ganz hoffnungslos. Wenn man bedenkt,
daß ein Mann wie Albert Schweitzer in den Vereinigten Staaten
berühmt werden konnte, wenn man sich klarmacht, wie viele
Möglichkeiten wir haben, unsere Jugend mit lebenden und
historischen Persönlichkeiten bekannt zu machen, die zeigen,
was menschliche Wesen als menschliche Wesen und nicht als
Entertainer im weitesten Sinn vollbringen können, wenn man an
die großen Werke von Literatur und Kunst aller Zeiten denkt, so
scheint es doch noch eine Chance zu geben, daß wir uns die
Vision einer guten Zukunft des Menschen erhalten und daß wir
sensibel dafür bleiben, wenn der Mensch zu mißlingen droht.
Falls es uns nicht gelingen sollte, die Vision eines reifen Lebens
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lebendig zu halten, so besteht allerdings die Wahrscheinlichkeit,
daß unsere gesamte kulturelle Tradition zusammenbricht. Diese
Tradition gründet sich nicht in erster Linie auf die Übermittlung
bestimmter Arten von Wissen, sondern auf die Weitergabe
bestimmter menschlicher Wesenszüge. Wenn die kommenden
Generationen diese Wesenszüge nicht mehr vor Augen haben,
wird eine fünftausendjährige Kultur zusammenbrechen, selbst
dann, wenn ihr Wissen auch weiterhin gelehrt und
weiterentwickelt wird.
Bisher haben wir uns mit dem beschäftigt, was zur Ausübung
einer jeden Kunst notwendig ist. Jetzt möchte ich mich der
Erörterung jener Eigenschaften zuwenden, die für die Fähigkeit
zu lieben von spezifischer Bedeutung sind. Nach allem, was ich
über das Wesen der Liebe gesagt habe, ist die
Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit, lieben zu können, daß
man seinen Narzißmus überwindet. Der narzißtisch Orientierte
erlebt nur das als real, was in seinem eigenen Inneren existiert,
während die Erscheinungen in der Außenwelt für ihn an sich
keine Realität besitzen, sondern nur daraufhin erfahren werden,
ob sie für ihn selbst von Nutzen oder gefährlich sind. Das
Gegenteil von Narzißmus ist Objektivität; damit ist die
Fähigkeit gemeint, Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie
sind, also objektiv, und in der Lage zu sein, dieses objektive Bild
von einem Bild zu trennen, das durch die eigenen Wünsche und
Ängste zustande kommt. Sämtliche Formen von Psychosen
weisen die Unfähigkeit zur Objektivität in einem extremen Maß
auf. Für den Geisteskranken gibt es nur eine Realität, die in
seinem eigenen Inneren existiert, die seiner Ängste und
Wünsche. Er sieht die Außenwelt als Symbol seiner eigenen
Innenwelt, als seine Schöpfung. Genau das trifft für uns alle zu,
wenn wir träumen. Im Traum produzieren wir Ereignisse, wir
inszenieren Dramen, die Ausdruck unserer Wünsche und Ängste
sind (freilich gelegentlich auch unserer Einsichten und
Beurteilungen), und wir sind, solange wir schlafen, überzeugt,
-133-
daß das Erzeugnis unserer Träume ebenso real ist wie die
Wirklichkeit, die wir im wachen Zustand wahrnehmen.
Dem Geisteskranken wie dem Träumenden fehlt ein
objektives Bild von der Außenwelt vollständig; aber wir alle
sind mehr oder weniger geisteskrank, wir alle schlafen mehr
oder weniger, wir alle machen uns ein nichtobjektives Bild von
der Welt, das durch unsere narzißtische Orientierung entstellt
ist. Muß ich dafür noch Beispiele anführen? Jeder wird sie leicht
entdecken, wenn er sich selbst oder seine Nachbarn beobachtet
oder wenn er die Zeitung liest. Der Grad der narzißtischen
Entstellung der Wirklichkeit ist dabei unterschiedlich. So ruft
zum Beispiel eine Frau den Arzt an und sagt, sie wolle am
Nachmittag zu ihm in die Sprechstunde kommen. Der Arzt
erwidert, er habe an diesem Tag keine Zeit für sie, aber sie
könne gern am nächsten Tag zu ihm kommen. Sie sagt darauf:
»Aber Herr Doktor, ich wohne doch nur fünf Minuten von Ihrer
Praxis entfernt!« Sie begreift nicht, daß es für ihn ja keine
Zeitersparnis bedeutet, wenn sie nur einen so kurzen Weg hat.
Sie erlebt die Situation auf narzißtische Weise: Weil sie Zeit
spart, spart auch er Zeit; die einzige Realität, die es für sie gibt,
ist sie selbst.
Weniger extrem - oder vielleicht auch nur weniger
offensichtlich - sind die Entstellungen, die in den
zwischenmenschlichen Beziehungen an der Tagesordnung sind.
Wie viele Eltern erleben die Reaktion ihres Kindes nur unter
dem Gesichtspunkt, ob es ihnen gehorcht, ob es ihnen Freude
macht, ob es ihnen zur Ehre gereicht usw., anstatt zu merken
oder sich auch nur dafür zu interessieren, wie dem Kind selbst
dabei zumute ist. Wie viele Männer meinen, ihre Frau sei
herrschsüchtig, nur weil sie aufgrund ihrer eigenen
Mutterbindung jede Forderung ihrer Frau als Einschränkung der
eigenen Freiheit empfinden. Wie viele Frauen halten ihren Mann
für untüchtig oder dumm, weil er ihrem Phantasiebild eines
strahlenden Ritters nicht entspricht, das sie sich vielleicht als
-134-
Kind gemacht haben.
Notorisch ist auch der Mangel an Objektivität in bezug auf
andere Völker. Von einem Tag zum anderen wird ein anderes
Volk als höchst gemein und bösartig empfunden, während das
eigene Volk alles, was nur gut und edel ist, verkörpert. Alles,
was der Feind tut, wird mit dem einen - alles, was man selbst
tut, wird mit dem anderen Maßstab gemessen. Gute Taten des
Feindes werden als besonders heimtückisch betrachtet, weil sie
uns und die Welt angeblich hinters Licht führen sollen, während
unsere eigenen Übeltaten notwendig und durch die edlen Ziele
gerechtfertigt sind, denen sie angeblich dienen. Wenn man die
Beziehungen zwischen den Völkern wie auch die zwischen
einzelnen Individuen betrachtet, kommt man tatsächlich zu der
Überzeugung, daß Objektivität die Ausnahme und eine mehr
oder weniger stark ausgeprägte narzißtische Entstellung die
Regel ist.
Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken. Die ihr
zugrundeliege nde emotionale Haltung ist die Demut. Man kann
nur objektiv sein und sich seiner Vernunft bedienen, wenn man
demütig geworden ist und seine Kindheitsträume von
Allwissenheit und Allmacht überwunden hat.
Auf die Praxis der Kunst des Liebens bezogen, bedeutet dies:
Da die Fähigkeit zu lieben davon abhängt, daß unser Narzißmus
relativ gering ist, verlangt diese Kunst die Entwicklung von
Demut, Objektivität und Vernunft. Wir müssen unser ganzes
Leben darauf ausrichten. Demut und Objektivität sind ebenso
unteilbar wie die Liebe. Ich kann meiner Familie gegenüber
nicht wirklich objektiv sein, wenn ich es dem Fremden
gegenüber nicht sein kann, und umgekehrt. Wenn ich die Kunst
des Liebens lernen will, muß ich mich in jeder Situation um
Objektivität bemühen und ein Gespür für solche Situationen
bekommen, in denen ich nicht objektiv bin. Ich muß versuchen,
den Unterschied zu erkennen zwischen dem narzißtisch
entstellten Bild, das ich mir von einem Menschen und seinem
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Verhalten mache, und dem wirklichen Menschen, wie er
unabhängig von meinen Interessen, Bedürfnissen und Ängsten
existiert. Wenn man sich die Fähigkeit zu Objektivität und
Vernunft erworben hat, hat man den Weg zur Kunst des Liebens
schon halb zurückgelegt, aber man muß diese Fähigkeit
gegenüber allen Menschen besitzen, mit denen man in Kontakt
kommt. Wenn jemand seine Objektivität nur für den geliebten
Menschen reservieren wollte und meint, er könne in seinen
Beziehungen zur übrigen Welt darauf verzichten, dann wird er
bald merken, daß er hier wie dort versagt. Die Fähigkeit zur
Liebe hängt davon ab, ob es uns gelingt, unseren Narzißmus und
die inzestuöse Bindung an die Mutter und die Sippe zu
überwinden. Sie hängt von unserer Fähigkeit ab, zu wachsen
und eine produktive Orientierung in unserer Beziehung zur Welt
und zu uns selbst zu entwickeln. Dieser Prozeß des Sichlösens,
des Geborenwerdens, des Erwachens hat als unumgängliche
Voraussetzung den Glauben. Die Praxis der Kunst des Liebens
erfordert die Praxis des Glaubens.
Was ist Glauben? Muß es sich dabei unbedingt um den
Glauben an Gott oder an religiöse Doktrinen handeln? Steht
Glaube notwendigerweise im Gegensatz oder ist er geschieden
von Vernunft und rationalem Denken? Wenn man das Problem
des Glaubens auch nur ansatzweise verstehen will, muß man
zwischen dem rationalen und dem irrationalen Glauben
unterscheiden. Unter einem irrationalen Glauben verstehe ich
einen Glauben (an eine Person oder eine Idee), bei dem man
sich einer irrationalen Autorität unterwirft. Im Gegensatz dazu
handelt es sich beim rationalen Glauben um eine Überzeugung,
die im eigenen Denken oder Fühlen wurzelt. Rationaler Glaube
meint jene Qualität von Gewißheit und Unerschütterlichkeit, die
unseren Überzeugungen eigen ist. Glaube ist ein Charakterzug,
der die Gesamtpersönlichkeit beherrscht, und nicht ein Glaube
an etwas ganz Bestimmtes.
Rationaler Glaube ist im produktiven, intellektuellen und
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emotionalen Tätigsein verwurzelt. Der rationale Glaube ist eine
wichtige Komponente des rationalen Denkens, in dem er
angeblich keinen Platz hat. Wie kommt beispielsweise der
Wissenschaftler zu einer neuen Entdeckung? Macht er zunächst
ein Experiment nach dem anderen, trägt er Tatsache um
Tatsache zusammen, ohne eine Vision davon zu haben, was er
zu finden erwartet? Nur selten ist auf irgendeinem Gebiet eine
wichtige Entdeckung auf solche Weise gemacht worden,
genausowenig wie man zu wichtigen Schlußfolgerungen kommt,
wenn man lediglich seinen Phantasien nachjagt. Der Prozeß
kreativen Denkens beginnt in allen Bereichen menschlichen
Bemühens oft mit etwas, das man als eine »rationale Vision«
bezeichnen könnte, welche selbst das Ergebnis beträchtlicher
vorausgegangener Studien, reflektierenden Denkens und vieler
Beobachtungen ist. Wenn es einem Wissenschaftler gelingt,
genügend Daten zusammenzutragen oder eine mathematische
Formel aufzustellen, die seine ursprüngliche Vision in hohem
Maß plausibel macht, dann kann man von ihm sagen, es sei ihm
gelungen, eine vorläufige Hypothese aufzustellen. Eine
sorgfältige Analyse der Hypothese und ihrer Implikationen
sowie die Sammlung neuer Daten, welche sie unterbauen, führt
dann zu einer adäquaten Hypothese und schließlich vielleicht
zur Einordnung dieser Hypothese in eine umfassende Theorie.
Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Beispiele für den
Glauben an die Vernunft und für solche Visionen der Wahrheit.
Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton waren alle erfüllt von
einem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft. Für diesen
Glauben starb Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, und
seinetwegen wurde Spino za exkommuniziert. Bei jedem Schritt
von der Konzeption einer rationalen Vision bis zur
Formulierung einer Theorie braucht man Glauben: Glauben an
die Vision als einem vernünftigen Ziel, das sich anzustreben
lohnt, Glauben an die Hypothese als einer wahrscheinlichen und
einleuchtenden Behauptung und Glauben an die schließlich
-137-
formulierte Theorie - wenigstens so lange, bis ein allgemeiner
Konsensus bezüglich ihrer Validität erreicht ist. Dieser Glaube
wurzelt in der eigenen Erfahrung, im Vertrauen auf das eigene
Denk-, Beobachtungs- und Urteilsvermögen. Während der
irrationale Glaube etwas nur deshalb für wahr hinnimmt, weil
eine Autorität oder die Mehrheit es sagt, ist der rationale Glaube
in einer unabhängigen Überzeugung verwurzelt, die sich auf das
eigene produktive Beobachten und Denken, der Meinung der
Mehrheit zum Trotz, gründet.
Denken und Urteilen sind nicht die einzigen Bereiche, in
denen der rationale Glaube eine Rolle spielt. In der Sphäre der
menschlichen Beziehungen ist Glaube ein unentbehrlicher
Bestandteil jeder echten Freundschaft oder Liebe. »An einen
anderen glauben« heißt soviel wie sich sicher sein, daß der
andere in seiner Grundhaltung, im Kern seiner Persönlichkeit, in
seiner Liebe zuverlässig und unwandelbar ist. Damit soll nicht
gesagt sein, daß jemand nicht auch einmal seine Meinung
ändern dürfte, doch sollte seine Grundhaltung sich
gleichbleiben. So sollte zum Beispiel seine Achtung vor dem
Leben und der Würde des Menschen ein Bestandteil seiner
selbst und keiner Veränderung unterworfe n sein.
Im gleichen Sinn glauben wir auch an uns selbst. Wir sind uns
der Existenz eines Selbst, eines Kerns unserer Persönlichkeit
bewußt, der unveränderlich ist und unser ganzes Leben lang
fortbesteht, wenn sich auch die äußeren Umstände ändern
mögen und wenn auch in unseren Meinungen und Gefühlen
gewisse Änderungen eintreten. Dieser Kern ist die Realität
hinter dem Wort »Ich«, auf der unsere Überzeugung von unserer
Identität beruht. Wenn wir nicht an die Beständigkeit unseres
Selbst glauben, gerät unser Identitätsgefühl in Gefahr, und wir
werden von anderen Menschen abhängig, deren Zustimmung
dann zur Grundlage unseres Identitätsgefühls wird. Nur wer an
sich selbst glaubt, kann anderen treu sein, weil nur ein solcher
Mensch sicher sein kann, daß er auch in Zukunft noch derselbe
-138-
sein wird wie heute und daß er deshalb genauso fühlen und
handeln wird, wie er das jetzt von uns erwartet. Der Glaube an
uns selbst ist eine Voraussetzung dafür, daß wir etwas
versprechen können, und da der Mensch - wie F. Nietzsche
(1910, S. 341) sagt - durch seine Fähigkeit, etwas versprechen
zu können, definiert werden kann, ist der Glaube eine der
Voraussetzungen der menschlichen Existenz. Worauf es in
Liebesbeziehungen ankommt, ist der Glaube an die eigene
Liebe, der Glaube an die Fähigkeit der eigenen Liebe, bei
anderen Liebe hervorzurufen, und der Glaube an ihre
Verläßlichkeit.
Ein weiterer Aspekt des Glaubens an einen anderen Menschen
bezieht sich darauf, daß wir an dessen Möglichkeiten glauben.
Die rudimentärste Form, in der dieser Glaube existiert, ist der
Glaube der Mutter an ihr Neugeborenes: daß es leben, wachsen,
laufen lernen und sprechen lernen wird. Freilich erfolgt die
Entwicklung des Kindes in dieser Hinsicht mit einer solchen
Regelmäßigkeit, daß man wohl für die diesbezüglichen
Erwartungen keinen besonderen Glauben braucht. Anders ist es
mit den Fähigkeiten, die sich unter Umständen nicht entwickeln
werden, wie etwa die Fähigkeit des Kindes, zu lieben, glücklich
zu sein und seine Vernunft zu gebrauchen, wie auch spezielle
künstlerische Begabungen. Sie sind die Saat, die wächst und die
zum Vorschein kommt, wenn die richtigen Voraussetzungen für
ihre Entwicklung gegeben sind, die aber auch im Kern erstickt
werden kann, wenn solche Voraussetzungen fehlen.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, daß die
Bezugsperson im Leben des Kindes an diese Entwicklungsmöglichkeiten
glaubt. Ob dieser Glaube vorhanden ist oder
nicht, macht den Unterschied aus zwischen Erziehung und
Manipulation. Erziehen bedeutet, dem Kind zu helfen, seine
Möglichkeiten zu realisieren. (Das englische Wort education =
Erziehung kommt vom lateinischen educere, was wörtlich soviel
bedeutet wie »herausführen« oder »etwas herausbringen, was
-139-
potentiell bereits vorhanden ist«.) Das Gegenteil von Erziehung
ist Manipulation, bei welcher der Erwachsene nicht an die
Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes glaubt und überzeugt
ist, daß das Kind nur dann zu einem ordentlichen Menschen
wird, wenn er ihm das, was er für wünschenswert hält, einprägt
und alles unterdrückt, was ihm nicht wünschenswert scheint. An
einen Roboter braucht man nicht zu glauben, weil in ihm kein
Leben ist, das sich entfalten könnte.
Der Höhepunkt des Glaubens an andere wird im Glauben an
die Menschheit erreicht. In der westlichen Welt kam dieser
Glaube in der jüdischchristlichen Religion zum Ausdruck, und
in weltlicher Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den
humanistisch orientierten politischen und gesellschaftlichen
Ideen der letzten hundertfünfzig Jahre. Genau wie der Glaube an
ein Kind, gründet auch er sich auf die Idee, daß die dem
Menschen gegebenen Möglichkeiten derart sind, daß er unter
entsprechenden Bedingungen die Fähigkeit besitzt, eine von den
Grundsätzen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe getragene
Gesellschaftsordnung zu errichten. Noch ist dem Menschen der
Aufbau einer solchen Gesellschaftsordnung nicht gelungen, und
deshalb erfordert die Überzeugung, daß er dazu in der Lage sein
wird, Glauben. Aber genau wie bei jeder Art von rationalem
Glauben handelt es sich auch hier um kein Wunschdenken,
sondern gründet sich auf die unleugbaren Leistungen der
Menschheit in der Vergangenheit und auf die Erfahrungen, die
jeder einzelne in seinem eigenen Inneren mit seiner Fähigkeit zu
Vernunft und Liebe macht.
Während der irrationale Glaube in der Unterwerfung unter
eine Macht, die als überwältigend stark, als allwissend und
allmächtig empfunden wird, und im Verzicht auf die eigene
Kraft und Stärke wurzelt, gründet sich der rationale Glaube auf
die entgegengesetzte Erfahrung. Wir besitzen diese Art von
Glauben an eine Idee, weil sie das Ergebnis unserer eigenen
Beobachtungen und unseres eigenen Denkens ist. Wir glauben
-140-
an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit
nur deshalb, weil wir das Wachstum unserer eigenen
Möglichkeiten, die Realität des Wachsens und die Stärke
unserer eigenen Vernunft und unserer Liebesfähigkeit in uns
erfahren haben; und wir glauben nur insoweit daran, wie wir
diese Erfahrung in uns selbst gemacht haben. Die Grundlage des
rationalen Glaubens ist die Produktivität. Aus dem Glauben
heraus leben heißt produktiv leben. Hieraus folgt, daß der
Glaube an die Macht (im Sinne von Herrschaft) und an die
Ausübung von Macht das Gegenteil des Glaubens ist. An eine
bereits existierende Macht glauben ist gleichbedeutend mit der
Verleugnung der Wachstumschancen noch nicht realisierter
Möglichkeiten. Bei der Macht handelt es ich um eine
Voraussage auf die Zukunft, die sich lediglich auf die
handgreifliche Gegenwart gründet und die sich als schwere
Fehlkalkulatio n herausstellt. Sie ist deshalb völlig irrational,
weil sie die menschlichen Möglichkeiten und das menschliche
Wachstum nicht berücksichtigt. Es gibt keinen rationalen
Glauben an die Macht. Es gibt nur eine Unterwerfung unter die
Macht oder - von Seiten derer, die sie besitzen - den Wunsch,
sie zu behaupten. Während Macht für viele das Allerrealste auf
der Welt zu sein scheint, hat die Geschichte der Menschheit
bewiesen, daß Macht die unstabilste aller menschlichen
Errungenschaften ist. Da aber Glaube und Macht sich
gegenseitig ausschließen, werden alle Religionen und alle
politischen Systeme, die ursprünglich auf einen rationalen
Glauben gründeten, schließlich korrupt und verlieren ihre
Stärke, wenn sie sich auf ihre Macht verlassen oder sich mit der
Macht verbünden.
Glauben erfordert Mut. Damit ist die Fähigkeit gemeint, ein
Risiko einzugehen, und auch die Bereitschaft, Schmerz und
Enttäuschung hinzunehmen. Wer Gefahrlosigkeit und Sicherheit
als das Wichtigste im Leben ansieht, kann keinen Glauben
haben. Wer sich in einem Verteidigungssystem verschanzt und
-141-
darin seine Sicherheit durch Distanz und Besitz zu erhalten
sucht, macht sich selbst zum Gefangenen. Geliebtwerden und
lieben brauchen Mut, den Mut, bestimmte Werte als das
anzusehen, was »uns unbedingt angeht«, den Sprung zu wagen
und für diese Werte alles aufs Spiel zu setzen.
Dieser Mut ist etwas völlig anderes als der Mut, von dem der
Angeber Mussolini sprach, wenn er sich des Schlagworts »Lebe
gefährlich!« bediente. Sein Mut war der Mut des Nihilismus. Er
wurzelte in einer destruktiven Einstellung zum Leben, in der
Bereitschaft, sein Leben wegzuwerfen, weil man nicht fähig ist,
es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das genaue Gegenteil
des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube an die Macht das
Gegenteil des Glaubens an das Leben ist.
Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann
man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben,
um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen
zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit
anzufangen. Aber wir alle pflegen ja diese Art von Glauben zu
besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in
bezug auf sein Kind, oder er leidet an Schlaflosigkeit oder an
der Unfähigkeit, eine produktive Arbeit zu leisten; oder er ist
mißtrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu
kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere
Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen
auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder
irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein
erwecken, daß man sich irrte, an seinen Überzeugungen
festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind - zu alldem ist
Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und
Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren
Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu
betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben
und Mut.
Das praktische Üben von Glauben und Mut fängt bei den
-142-
kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte
hierzu sind: darauf zu achten, wo und wann man den Glauben
verliert, die Rationalisierungen zu durchschauen, deren man sich
bedient, um diesen Glaubensverlust zu verdecken, zu erkennen,
wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man
hierbei anwendet, zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns
schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat
führt und daß dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch
erkennen, daß wir bewußt zwar Angst haben, nicht geliebt zu
werden, daß wir uns aber in Wirklichkeit - wenngleich meist
unbewußt - davor fürchten, zu lieben. Lieben heißt, daß wir uns
dem anderen ohne Garantie ausliefern, daß wir uns der geliebten
Person ganz hingeben in der Hoffnung, daß unsere Liebe auch in
ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und
wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann
man noch mehr über die Praxis des Glaubens sagen? Vielleicht
kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger
wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides
nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich
auch meine, daß jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben
zu lernen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt.
Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des
Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei
erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich diskutiert
werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die
Aktivität im Sinne des aus sich heraus Tätigseins. Ich erwähnte
bereits, daß Aktivität nicht so zu verstehen ist, daß man »sich
irgendwie beschäftigt«, sondern als inneres Tätigsein, als
produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches
Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich
mich ständig auf aktive Weise mit der geliebten Person, aber
nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren,
aktiv mit ihr in Beziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn
ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft,
-143-
der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein
legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man
der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befinden sich
heute in der paradoxen Situation, daß sie halb (DOPPELT)
worts »Lebe gefährlich!« bediente. Sein Mut war der Mut des
Nihilismus. Er wurzelte in einer destruktiven Einstellung zum
Leben, in der Bereitschaft, sein Leben wegzuwerfen, weil man
nicht fähig ist, es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das
genaue Gegenteil des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube
an die Macht das Gegenteil des Glaubens an das Leben ist.
Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann
man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben,
um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen
zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit
anzufangen. Aber wir alle pflegen ja diese Art von Glauben zu
besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in
bezug auf sein Kind, oder er leidet an Schlaflosigkeit oder an
der Unfähigkeit, eine produktive Arbeit zu leisten; oder er ist
mißtrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu
kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere
Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen
auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder
irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein
erwecken, daß man sich irrte, an seinen Überzeugungen
festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind - zu alldem ist
Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und
Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren
Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu
betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben
und Mut.
Das praktische Üben von Glauben und Mut fangt bei den
kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte
hierzu sind: darauf zu achten, wo und wann man den Glauben
verliert, die Rationalisierungen zu durchschauen, deren man sich
-144-
bedient, um diesen Glaubensverlust zu verdecken, zu erkennen,
wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man
hierbei anwendet, zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns
schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat
führt und daß dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch
erkennen, daß wir bewußt zwar Angst haben, nicht geliebt zu
werden, daß wir uns aber in Wirklichkeit - wenngleich meist
unbewußt - davor fürchten, zu lieben. Lieben heißt, daß wir uns
dem anderen ohne Garantie ausliefern, daß wir uns der geliebten
Person ganz hingeben in der Hoffnung, daß unsere Liebe auch in
ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und
wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann
man noch mehr über die Praxis des Glaubens sagen? Vielleicht
kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger
wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides
nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich
auch meine, daß jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben
zu lernen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt.
Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des
Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei
erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich diskutiert
werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die
Aktivität im Sinne des aus sich heraus Tätigseins. Ich erwähnte
bereits, daß Aktivität nicht so zu verstehen ist, daß man »sich
irgendwie beschäftigt«, sondern als inneres Tätigsein, als
produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches
Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich
mich ständig auf aktive Weise mit der geliebten Person, aber
nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren,
aktiv mit ihr in Beziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn
ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft,
der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein
legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man
der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befinden sich
-145-
heute in der paradoxen Situation, daß sie halb schlafen, wenn sie
wach sind, und halb wachen, wenn sie schlafen oder schlafen
möchten. Ganz wach zu sein ist die Voraussetzung dafür, daß
man sich selbst und andere nicht langweilt - und tatsächlich
gehört es ja zu den wichtigsten Vorbedingungen für die Liebe,
daß man sich weder gelangweilt fühlt noch den anderen
langweilt. Den ganzen Tag lang im Denken und Fühlen, mit
Augen und Ohren tätig zu sein, um nicht innerlich träge zu
werden, indem man sich rein rezeptiv verhält, Dinge hortet oder
einfach seine Zeit totschlägt, das ist eine unerläßliche
Voraussetzung für die Praxis der Kunst des Liebens. Es ist eine
Illusion, zu glauben, man könne sein Leben so einteilen, daß
man im Bereich der Liebe produktiv und in allen anderen
nichtproduktiv sein könne. Produktivität läßt eine derartige
Arbeitsteilung nicht zu. Die Fähigkeit zu lieben erfordert einen
Zustand intensiver Wachheit und gesteigerter Vitalität, der nur
das Ergebnis einer produktiven und tätigen Orientierung in
vielen anderen Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen
Gebieten nichtproduktiv, so ist man es auch nicht in der Liebe.
Eine Diskussion der Kunst des Liebens darf sich nicht auf den
persönlichen Bereich beschränken, wo jene Merkmale und
Haltungen erworben und weiterentwickelt werden, die wir in
diesem Kapitel beschrieben haben. Sie hängt untrennbar mit
dem gesellschaftlichen Bereich zusammen. Wenn lieben soviel
heißt wie gegenüber einem jeden eine liebevolle Haltung
einnehmen, wenn Liebe ein Charakterzug ist, dann muß sie
notwendigerweise nicht nur in unseren Beziehungen zu unserer
Familie und zu unseren Freunden, sondern auch in den
Beziehungen zu all jenen zu finden sein, mit denen wir durch
unsere Arbeit, unser Geschäft oder unseren Beruf in Kontakt
kommen. Es gibt keine »Arbeitsteilung« zwischen der Liebe zu
den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im
Gegenteil ist letztere die Vorbedingung für erstere. Würde man
diese Einsicht ernst nehmen, so würde das in der Tat eine recht
-146-
drastische Veränderung in unseren gewohnten sozialen
Beziehungen bedeuten. Während wir viel vom religiösen Ideal
der Nächstenliebe reden, werden unsere Beziehungen in
Wirklichkeit bestenfalls vom Grundsatz der Fairneß geleitet.
Fairneß bedeutet soviel wie auf Betrug und Tricks beim
Austausch von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen wie auch
beim Austausch von Gefühlen zu verzichten. »Ich gebe dir
ebensoviel, wie du mir gibst« materielle Güter oder Liebe - : So
lautet die oberste Maxime der kapitalistischen Moral. Man
könnte sagen, daß die Entwicklung der Fairneß-Ethik der
besondere ethische Beitrag der kapitalistischen Gesellschaft ist.
Die Gründe hierfür sind im Wesen des Kapitalismus zu
suchen. In den vorkapitalistischen Gesellschaften bestimmten
nackte Gewalt, Tradition oder persönliche Bande der Liebe und
Freundschaft den Güteraustausch. Im Kapitalismus ist der
allesbestimmende Faktor der Austausch auf dem Markt. Ob es
sich um den Warenmarkt, um den Arbeitsmarkt oder den
Dienstleistungsmarkt ha ndelt - jeder tauscht das, was er zu
verkaufen hat, zu den jeweiligen Marktbedingungen ohne
Anwendung von Gewalt und ohne Betrug gegen das, was er zu
erwerben wünscht.
Die Fairneß-Ethik ist leicht mit der Ethik der Goldenen Regel
zu verwechseln. Die Maxime: »Was du nicht willst, daß man dir
tu, das füg' auch keinem ändern zu« kann man so auslegen, als
bedeute sie: »Sei fair in deinem Tauschgeschäft mit anderen«.
Tatsächlich jedoch handelte es sich dabei ursprünglich um eine
volkstümliche Formulierung des biblischen Gebots: »Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst«. In Wirklichkeit ist dieses
jüdischchristliche Gebot der Nächstenliebe etwas völlig anderes
als die Fairneß-Ethik. »Seinen Nächsten lieben« heißt, sich für
ihn verantwortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, während die
Fairneß-Ethik das Ziel verfolgt, sich nicht verantwortlich für ihn
und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und
distanziert zu sein; sie bedeutet, daß man zwar die Rechte seines
-147-
Nächsten respektiert, nicht aber, daß man ihn liebt. Es ist kein
Zufall, daß die Goldene Regel heute zur populärsten religiösen
Maxime geworden ist. Weil man sie nämlich im Sinn der
Fairneß-Ethik interpretieren kann, ist es die einzige religiöse
Maxime, die ein jeder versteht und die ein jeder zu praktizieren
bereit ist. Aber wenn man Liebe praktizieren will, muß man erst
einmal den Unterschied zwischen Fairneß und Liebe begriffen
haben.
Hier stellt sich jedoch eine wichtige Frage. Wenn unsere
gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation
darauf basiert, daß jeder den eigenen Vorteil sucht, wenn sie von
dem lediglich durch den Grundsatz der Fairneß gemilderten
Prinzip des Egoismus beherrscht wird, wie kann man dann im
Rahmen unserer bestehenden Gesellschaftsordnung leben und
wirken und gleichzeitig Liebe üben? Bedeutet denn letzteres
nicht, daß man alle weltlichen Interessen aufgeben und in
völliger Armut leben sollte? Christliche Mönche und Menschen
wie Leo Tolstoi, Albert Schweitzer und Simone Weil haben
diese Frage gestellt und auf radikale Weise beantwortet. Es gibt
andere, die die Meinung teilen, daß Liebe und normales weltliches
Leben in unserer Gesellschaft miteinander unvereinbar
sind. (Vgl. H. Marcuse, 1955.) Sie kommen zu dem Ergebnis,
daß, wer heute von der Liebe rede, sich nur am allgemeinen
Schwindel beteilige; sie behaupten, nur ein Märtyrer oder ein
Verrückter könne in der heutigen Welt lieben und deshalb seien
alle Diskussionen über die Liebe nichts als gutgemeinte Predigt.
Dieser sehr respektable Standpunkt kann aber leicht zur
Rationalisierung des eigenen Zynismus dienen. Tatsächlich
steckt er hinter der Auffassung des Durchschnittsbürgers, der
das Gefühl hat: »Ich wäre ja recht gern ein guter Christ - aber
wenn ich damit ernst machte, müßte ich verhungern.« Dieser
»Radikalismus« läuft auf einen moralischen Nihilismus hinaus.
Ein solcher »radikaler Denker« ist genau wie der
Durchschnittsbürger ein liebesunfähiger Automat, und der
-148-
einzige Unterschied zwischen beiden ist der, daß letzterer es
nicht merkt, während ersterer es weiß und darin eine
»historische Notwendigkeit« sieht. Ich bin der Überzeugung,
daß die absolute Unvereinbarkeit von Liebe und »normalem«
Leben nur in einem abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar
miteinander sind das der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
zugrundeliegende Prinzip und das Prinzip der Liebe. Aber
konkret gesehen, ist die moderne Gesellschaft ein komplexes
Phänomen. Der Verkäufer einer unbrauchbaren Ware kann zum
Beispiel wirtschaftlich nicht existieren, wenn er nicht lügt; ein
geschickter Arbeiter, ein Chemiker oder Physiker aber kann das
durchaus. In ähnlicher Weise können Bauern, Arbeiter, Lehrer
und Geschäftsleute vieler Art durchaus versuchen, Liebe zu
praktizieren, ohne hierdurch in wirtschaftliche Schwierigkeiten
zu geraten. Selbst wenn man erkannt hat, daß das Prinzip des
Kapitalismus mit dem Prinzip der Liebe an sich unvereinbar ist,
muß man doch einräumen, daß der »Kapitalismus« selbst eine
komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der immer
noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher Spielraum
möglich sind.
Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als
ob wir damit rechnen könnten, daß unser gegenwärtiges
Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern wird und daß
wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der
Nächstenliebe hoffen können. Menschen, die unter unserem
gegenwärtigen System zur Liebe fähig sind, bilden in jedem Fall
die Ausnahme. Liebe ist zwangsweise eine Randerscheinung in
der heutigen westlichen Gesellschaft, und das nicht so sehr, weil
viele Tätigkeiten eine liebevolle Einstellung ausschließen,
sondern weil in unserer hauptsächlich auf Produktion
eingestellten, nach Gebrauchsgütern gierenden Gesellschaft nur
der Nonkonformist sich erfolgreich gegen diesen Geist zur Wehr
setzen kann. Wem also die Liebe als einzige vernünftige Lösung
des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der
-149-
muß zu dem Schluß kommen, daß in unserer Gesellschaftsstruktur
wichtige und radikale Veränderungen vorgenommen
werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen
Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung
bleiben soll. In welcher Richtung derartige
Veränderungen vorgenommen werden könnten, kann hier nur
angedeutet werden. (In The Sane Society [1955a] habe ich mich
mit diesem Problem ausführlich befaßt.) Unsere Gesellschaft
wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern
geleitet; die Menschen werden durch Massensuggestion
motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu
konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten
werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel
sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut genährter,
gut gekleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr
interessiert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm
eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muß der
Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat
muß ihm dienen, und nicht er ihm. Er muß am Arbeitsprozeß
aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt
zu sein. Die Gesellschaft muß so organisiert werden, daß die
soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner
gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird.
Wenn das, was ich zu zeigen versuchte, zutrifft - daß nämlich
die Liebe die einzig vernünftige und befriedigende Lösung des
Problems der menschlichen Existenz darstellt -, dann muß jede
Gesellschaft, welche die Entwicklung der Liebe so gut wie
unmöglich macht, auf die Dauer an ihrem Widerspruch zu den
grundlegenden Bedürfnissen der menschlichen Natur zugrunde
gehen. Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine »Predigt«,
denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden
menschlichen Wesens. Daß dieses Bedürfnis so völlig in den
Schatten gerückt ist, heißt nicht, daß es nicht existiert. Das
Wesen der Liebe zu analysieren heißt, ihr allgemeines Fehlen
-150-
heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen
Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die
Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen
und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist
ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre
Wesen des Menschen gründet.