Die Praxis der Liebe
Nachdem wir uns bisher mit dem theoretischen Aspekt der Kunst des Liebens befaßt haben, stehen wir jetzt vor dem weit schwierigeren Problem, wie man die Kunst des Liebens in die Praxis umsetzen kann. Kann man überhaupt etwas über die Ausübung einer Kunst lernen, außer indem man sie selbst ausübt? Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß heute die meisten Menschen - und demnach auch die Leser dieses Buches - erwarten, daß man ihnen Doityourself-Rezepte gibt, was in unserem Fall heißt, daß sie eine praktische Anleitung in der Kunst des Liebens erwarten. Ich fürchte, daß jeder, der das von diesem letzten Kapitel erwartet, schwer enttäuscht sein wird. Lieben ist eine persönliche Erfahrung, die jeder nur für sich allein haben kann; tatsächlich gibt es ja auch kaum jemand, der diese Erfahrung nicht wenigstens in rudimentärer Form als Kind, als Adoleszent oder als Erwachsener gehabt hätte. Wenn wir hier die Praxis der Liebe diskutieren, so können wir nur ihre Prämissen erörtern, die Wege, die zu ihr hinführen, und wie man sich in bezug auf diese Prämissen und Zugangswege zu verhalten hat. Die Schritte zu diesem Ziel hin kann jeder nur für sich allein tun, und die Diskussion endet, bevor der entscheidende Schritt getan ist. Dennoch glaube ich, daß die Diskussion der Zugangswege helfen könnte, die Kunst beherrschen zu lernen - wenigstens denen, die keine fertigen Rezepte erwarten. Die Ausübung einer jeden Kunst hat gewisse allgemeine Voraussetzungen, ganz gleich ob es sich um die Tischlerkunst, die Medizin oder die Kunst der Liebe handelt. Vor allem erfordert die Ausübung einer Kunst Disziplin. Ich werde es nie zu etwas bringen, wenn ich nicht diszipliniert vorgehe. Tue ich -122- nur dann etwas, wenn ich gerade »in Stimmung« bin, so kann das für mich ein nettes oder unterhaltsames Hobby sein, doch niemals werde ich in dieser Kunst ein Meister werden. Aber es geht nicht nur um die Disziplin bei der Ausübung einer bestimmten Kunst (zum Beispiel darum, sich jeden Tag einige Stunden lang darin zu üben), sondern man sollte sich in seinem gesamten Leben um Disziplin bemühen. Man sollte meinen, für den modernen Menschen sei nichts leichter zu lernen als Disziplin. Verbringt er nicht täglich acht Stunden auf denkbar disziplinierte Weise bei seinem Job, den er nach einer strengen Routine erledigt? Tatsächlich jedoch zeigt der moderne Mensch außerhalb der Sphäre seiner Berufsarbeit nur äußerst wenig Selbstdisziplin. Wenn er nicht arbeitet, möchte er faulenzen und sich herumräkeln oder - etwas netter ausgedrückt - sich »entspannen«. Daß man faulenzen möchte, ist aber großenteils nichts anderes als eine Reaktion darauf, daß unser Leben durch und durch zur Routine geworden ist. Eben weil der Mensch sich acht Stunden am Tag gezwungen sieht, seine Energie auf Zwecke zu verwenden, die nicht seine eigenen sind, bei einer Arbeitsweise, die er sich nicht selbst aussuchen kann, sondern die ihm vom Arbeitsrhythmus vorgeschrieben wird, begehrt er auf, und sein Aufbegehren nimmt die Form eines kindlichen Sichgehenlassens an. Außerdem ist er im Kampf gegen autoritäre Systeme mißtrauisch geworden gegen jede Art von Disziplin, ganz gleich, ob sie ihm von einer irrationalen Autorität aufgezwungen wird oder ob er sie sich vernünftigerweise selbst auferlegen sollte. Ohne Disziplin aber wird das Leben zersplittert und chaotisch, und es fehlt ihm an Konzentration. Daß diese Konzentration eine unumgängliche Vorbedingung für die Meisterschaft in einer Kunst ist, bedarf kaum eines Beweises. Jeder, der jemals eine Kunst zu erlernen versuchte, weiß das. Trotzdem ist aber die Konzentration in unserer Kultur sogar noch seltene r als die Selbstdisziplin. Ganz im Gegenteil -123- führt unsere Kultur zu einer unkonzentrierten, zerstreuten Lebensweise, für die es kaum eine Parallele gibt. Man tut vielerlei gleichzeitig. Zu gleicher Zeit liest man, hört man Radio, redet, raucht, ißt und trinkt. Wir sind die Konsumenten mit dem stets geöffneten Mund, begierig und bereit, alles zu verschlingen - Bilder, Schnaps und Wissen. Dieser Mangel an Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, daß es uns schwerfallt, mit uns allein zu sein. Stillzusitzen, ohne zu reden, zu rauchen, zu lesen und zu trinken, ist den meisten Menschen unmöglich. Sie werden nervös und zappelig und müssen etwas tun - mit dem Mund oder den Händen. Das Rauchen ist eines der Symptome dieses Mangels an Konzentrationsfähigkeit; es beschäftigt Hände, Mund, Augen und Nase zugleich. Eine dritte Voraussetzung ist die Geduld. Wiederum weiß jeder, der jemals eine Kunst zu meistern versuchte, daß man Geduld haben muß, wenn man etwas erreichen will. Wenn man auf rasche Erfolge aus ist, lernt man eine Kunst nie. Aber für den modernen Menschen ist es ebenso schwer, Geduld zu haben, wie Disziplin und Konzentration aufzubringen. Unser gesamtes Industriesystem ist genau dem Gegenteil förderlich: der Geschwindigkeit. Alle unsere Maschinen sind auf Geschwindigkeit hin konstruiert; Auto und Flugzeug bringen uns schnell zu unserem Bestimmungsort - je schneller, um so besser. Die Maschine, die die gleiche Quantität in der halben Zeit produziert, ist doppelt so gut wie die ältere, langsamere. Natürlich hat das wichtige wirtschaftliche Gründe. Aber wie auf so vielen anderen Gebieten werden auch hier menschliche Werte von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Was für die Maschine gut ist, muß auch für den Menschen gut sein - so lautet der logische Schluß. Der moderne Mensch meint, er würde etwas verlieren - nämlich Zeit -, wenn er nicht alles schnell erledigt; und dann weiß er nicht, was er mit der gewonnenen Zeit anfangen soll - und er schlägt sie tot. -124- Schließlich gehört auch noch zu den Vorbedingungen für die Erlernung einer Kunst, daß es einem sehr wichtig ist, darin Meister zu werden. Wenn die Kunst dem Lehrling nicht von großer Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Er wird bestenfalls ein guter Dilettant, aber niemals ein Meister darin werden. Es ist dies auch für die Kunst der Liebe eine ebenso wichtige Vorbedingung wie für jede andere Kunst. Es sieht aber so aus, als ob in der Kunst des Liebens noch mehr als in anderen Künsten die Dilettanten gegenüber den Meistern in der Überzahl wären. Im Hinblick auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Erlernung einer Kunst ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen. Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, sondern sozusagen auf indirekte Weise. Man muß oft zuerst eine große Anzahl anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun haben, bevor man mit der eigentlichen Kunst anfangt. Ein Tischlerlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein angehender Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling in der Zen-Kunst des Bogenschießens fängt mit Atemübungen an. (Um ein Bild von der Konzentration, Disziplin, Geduld und Hingabe zu gewinnen, die zur Erlernung einer Kunst erforderlich sind, möchte ich den Leser auf Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens [E. Herrigel, 1960] hinweisen.) Wenn man in irgendeiner Kunst zur Meisterschaft gelangen will, muß man ihr sein ganzes Leben widmen oder es doch wenigstens darauf ausrichten. Unsere gesamte Persönlichkeit muß zu einem Instrument zur Ausübung der Kunst werden und muß je nach den speziellen Funktionen, die es zu erfüllen gilt, in Form gehalten werden. Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das, daß jeder, der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in jeder Phase seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld praktisch üben muß. Wie übt man sich in Disziplin? Unsere Großväter wären weit besser in der Lage gewesen, diese Frage zu beantworten. Sie -125- hätten uns empfohlen, morgens früh aufzustehen, keinen unnötigen Luxus zu treiben und hart zu arbeiten. Diese Art von Disziplin hatte jedoch auch ihre offensichtlichen Nachteile. Sie war starr und autoritär, sie stellte die Tugenden der Genügsamkeit und Sparsamkeit in den Mittelpunkt und war in vieler Hinsicht lebensfeindlich. Aber als Reaktion auf diese Art von Disziplin besteht heute in zunehmendem Maße die Tendenz, jeder Art von Disziplin mit Argwohn zu begegnen und in einem undisziplinierten, trägen Sichgehenlassen einen Ausgleich für die Routine zu suchen, die uns während unseres achtstündigen Arbeitstages aufgezwungen wird. Morgens regelmäßig zur gleichen Zeit aufstehen, sich täglich eine bestimmte Zeit mit Tätigkeiten wie Meditieren, Lesen, Musik hören und Spazierengehen beschäftigen; nicht über ein gewisses Mindestmaß hinaus Ablenkung durch Kriminalromane und Filme suchen und nicht zuviel essen und trinken, das wären einige auf der Hand liegende Grundregeln. Wesentlich ist jedoch, daß man Disziplin nicht wie etwas übt, das einem von außen aufgezwungen wird, sondern daß sie zum Ausdruck des eigenen Wollens wird, daß man sie als angenehm empfindet und daß man sich allmählich ein Verhalten angewöhnt, das man schließlich vermissen würde, wenn man es wieder aufgeben sollte. Es gehört zu den bedauerlichen Aspekten unserer westlichen Auffassung von Disziplin (wie übrigens von jeder Tugend), daß man sie für recht mühsam hält und daß man meint, sie könne nur etwas »Gutes« sein, wenn sie einem schwerfällt. Der Osten hat schon vor langer Zeit erkannt, daß das, was dem Menschen guttut - seinem Körper und seiner Seele -, ihm auch angenehm sein muß, auch wenn zu Anfang einige Widerstände zu überwinden sind. Sich zu konzentrieren ist in unserer Kultur noch weit schwieriger, wo alles der Konzentrationsfähigkeit entgegenzuwirken scheint. Der wichtigste Schritt dazu ist, zu lernen, mit sich selbst allein zu sein, ohne zu lesen, Radio zu hören, zu -126- rauchen oder zu trinken. Tatsächlich bedeutet sich konzentrieren zu können dasselbe wie mit sich allein sein zu können - und ebendiese Fähigkeit ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Wenn ich an einem anderen Menschen hänge, weil ich nicht auf eigenen Füßen stehen kann, kann er vielleicht mein Lebensretter sein, aber unsere Beziehung ist keine Liebe. Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein sein zu können, die Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Jeder, der versucht, mit sich allein zu sein, wird entdecken, wie schwer das ist. Er wird eine innere Unruhe verspüren, wird zappelig werden und sogar Angst bekommen. Er wird bald keine Lust mehr haben, mit dieser Übung fortzufahren, und wird die Unlust damit rationalisieren, daß es ja doch keinen Wert habe, daß es dummes Zeug sei, daß es zuviel Zeit in Anspruch nehme und dergleichen Gründe mehr. Außerdem wird er beobachten, daß ihm allerlei Gedanken durch den Kopf gehen und von ihm Besitz ergreifen. Er wird merken, daß er Pläne für den restlichen Teil des Tages macht, daß er über irgendwelche beruflichen Schwierigkeiten nachdenkt oder darüber, wo er den Abend verbringen könnte. Er wird sich den Kopf mit vielen Dingen füllen, statt sich einmal davon zu befreien. Dabei können ein paar sehr einfache Übungen helfen, wie zum Beispiel in entspannter Haltung (ohne sich zu räkeln, aber auch nicht verkrampft) dasitzen, die Augen schließen, versuchen, sich eine weiße Fläche vorzustellen und dabei alle störenden Bilder und Gedanken auszuschalten. Dann sollte man das eigene Atmen verfolgen; man sollte nicht darüber nachdenken und es auch nicht gewaltsam beeinflussen, sondern es einfach verfolgen - und es auf diese Weise »spüren«. Ferner sollte man versuchen, sein »Ich« zu erfüllen; Ich = mein Selbst als Zentrum all meiner Kräfte, als Schöpfer meiner Welt. Solche Konzentrationsübungen sollte man jeden Morgen wenigstens zwanzig Minuten lang machen (wenn möglich, noch länger) sowie allabendlich vor dem Schlafengehen. (Während dies in den östlichen Kulturen, vor allem in der indischen, in Theorie -127- und Praxis schon immer eine beträchtliche Rolle spielt, verfolgt man in den letzten Jahren auch im Westen ähnliche Ziele. Die wichtigste Schule ist meiner Ansicht nach die von Gindler, deren Ziel es ist, ein Gefühl für den eigenen Körper zu erwerben. Zur Gindler-Methode vgl. auch Charlotte Seivers Beitrag in ihren Vorlesungen und Kursen an der New Yorker New School.) Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem, was man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch liest, sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert. Nur das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns interessieren, und wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn man sich so auf etwas konzentriert, spielt es kaum eine Rolle, was man tut. Dann nehmen alle Dinge, die wichtigen wie die unwichtigen, eine neue Dimension in der Wirklichkeit an, weil wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Wenn man lernen will, sich zu konzentrieren, sollte man triviale Unterhaltungen, das heißt solche, die nicht echt sind, möglichst meiden. Wenn zwei Menschen miteinander über das Wachstum eines Baumes, den sie beide kennen, oder über den Geschmack des Brotes, das sie gerade gegessen haben, oder über ein gemeinsames berufliches Erlebnis reden, so kann eine solche Unterhaltung durchaus relevant sein, vorausgesetzt, daß sie das, worüber sie reden, wirklich erlebt haben und sich nicht auf abstrakte Weise damit befassen; andererseits kann sich eine Unterhaltung um Politik oder um religiöse Fragen drehen und trotzdem trivial sein. Dies ist der Fall, wenn beide Gesprächspartner in Gemeinplätzen miteinander reden und bei dem, was sie sagen, mit dem Herzen nicht dabei sind. Hinzuzufügen wäre noch, daß man nicht nur keine trivialen Unterhaltungen führen, sondern daß man auch schlechte Gesellschaft möglichst meiden sollte. Unter schlechter Gesellschaft verstehe ich nicht nur lasterhafte und destruktive Menschen; ihnen sollte man aus dem Weg gehen, weil sie eine -128- vergiftete und deprimierende Atmosphäre um sich verbreiten. Ich meine auch die Gesellschaft von Menschen, die innerlich abgestorben sind, deren Seele tot ist, obgleich ihr Körper noch lebt, von Menschen, deren Gedanken und deren Unterhaltung trivial sind, die schwätzen, anstatt zu reden, und die Gemeinplätze statt eigene Gedanken vorbringen. Freilich ist es nicht immer möglich, die Gesellschaft solcher Leute zu meiden, und es ist auch gar nicht notwendig. Wenn man ihnen nicht in der erwarteten Weise mit Gemeinplätzen und Belanglosigkeiten antwortet, sondern unmittelbar und menschlich reagiert, wird man oft erleben, daß auch sie ihr Verhalten ändern, und das oft aufgrund des Überraschungseffekts, den der Schock des Unerwarteten bei ihnen auslöst. Auf andere konzentriert zu sein heißt vor allem, zuhören zu können. Die meisten hören sich an, was andere sagen, oder erteilen ihnen sogar Ratschläge, ohne ihnen wirklich zuzuhören. Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und genausowenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten. Die Folge ist, daß das Gespräch sie ermüdet. Sie bilden sich ein, es würde sie noch mehr ermüden, wenn sie konzentriert zuhörten, aber das Gegenteil trifft zu. Jede konzentriert ausgeführte Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine natürliche und wohltuende Müdigkeit einsetzt), während jede unkonzentrierte Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur Folge hat, daß man abends dann schlecht einschläft. Konzentriert sein heißt ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, bereits an das nächste denken, das anschließend zu tun ist. Es versteht sich von selbst, daß Konzentration vor allem von Menschen geübt werden muß, die sich lieben. Sie müssen lernen, einander nahe zu sein, ohne gleich irgendwie wieder voneinander wegzulaufen, wie das gewöhnlich geschieht. Zu Anfang wird es schwerfallen, sich in der Konzentration zu üben; man wird das Gefühl haben, es werde einem nie gelingen. Daß Geduld dazu nötig ist, braucht -129- man kaum zu betonen. Wenn man nicht weiß, daß alles seine Zeit hat, und die Dinge erzwingen will, wird man freilich die Konzentration nie erlernen - auch nicht in der Kunst des Liebens. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, was Geduld ist, braucht man nur ein Kind beim Laufenlernen zu beobachten. Es fällt hin und fällt immer und immer wieder hin und versucht es doch von neuem; es gelingt ihm immer besser, bis es eines Tages laufen kann, ohne hinzufallen. Was könnte der Erwachsene alles fertigbringen, wenn er bei Dingen, die ihm wichtig sind, die Geduld und Konzentration eines Kindes hätte! Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein Gespür für sich selbst erwirbt. Was heißt das? Sollte man die ganze Zeit über sich selbst nachdenken, sollte man sich selbst analysieren oder was sonst? Wenn wir sagen wollten, daß man für eine Maschine ein Gespür haben müsse, dürfte es uns kaum schwerfallen, zu erklären, was wir damit meinen. So hat zum Beispiel jeder, der einen Wagen fährt, ein Gespür für ihn. Er spürt auch das geringste ungewohnte Geräusch und die geringste Änderung im Beschleunigungsvermögen des Motors. Ebenso spürt der Fahrer jede Veränderung in der Fahrbahnoberfläche, und er spürt, was die Autos vor und hinter ihm machen. Über all das denkt er nicht nach; er befindet sich in einem Zustand entspannter Aufmerksamkeit, in dem er aufgeschlossen ist für alle relevanten Veränderungen der Situation, auf die er sich konzentriert - nämlich seinen Wagen sicher zu fahren. Wenn wir uns nach einer Situation umsehen, wo ein Mensch ein Gespür für den anderen hat, so finden wir das deutlichste Beispiel im Verhältnis der Mutter zu ihrem Baby. Sie bemerkt gewisse körperliche Veränderungen, Wünsche und Nöte ihres Kindes bereits, bevor es diese offen äußert. Sie wacht auf, wenn das Kind schreit, während andere, viel lautere Geräusche sie nicht wecken würden. All das bedeutet, daß sie ein Gespür für die Lebensäußerungen ihres Kindes hat; sie ist nicht ängstlich oder besorgt, sondern befindet sich in einem wachen -130- Ruhezustand, in dem sie für jede bedeutsame Mitteilung, die von ihrem Kind kommt, aufnahmebereit ist. Auf gleiche Weise kann man auch für sich selbst ein Gespür haben. Man merkt zum Beispiel, daß man müde oder deprimiert ist, und anstatt diesem Gefühl nachzugeben und es durch trübe Gedanken, die stets zur Hand sind, noch zu verstärken, fragt man sich: »Was ist mit mir los? Warum bin ich so deprimiert?« Dasselbe geschieht, wenn man merkt, daß man irritiert oder ärgerlich ist oder daß man vor sich hin träumt und sonstwie vor etwas auf der Flucht ist. In allen diesen Fällen kommt es darauf an, die wahre Ursache zu spüren und nicht auf tausenderlei Weise seine Zuflucht zu Rationalisierungen zu nehmen. Wir sollten auf unsere innere Stimme hören, die uns - oft recht schnell - sagt, weshalb wir so unruhig, deprimiert oder irritiert sind. Der Durchschnittsmensch hat ein gewisses Gespür für die Prozesse, die sich in seinem Körper abspielen; er bemerkt Veränderungen, selbst einen geringfügigen Schmerz; zu dieser Art von körperlichem Gespür kommt es relativ leicht, da die meisten Menschen eine Vorstellung davon haben, wie man sich fühlt, wenn es einem gut geht. Das gleiche Gespür in bezug auf geistige Prozesse ist weit seltener, da die meisten Menschen niemals jemand kennengelernt haben, der optimal funktioniert. Sie nehmen die Art, wie ihre Eltern und Verwandten oder die gesellschaftliche Gruppe, in die sie hineingeboren wurden, seelisch funktionieren, für die Norm, und solange sie selbst nicht davon abweichen, haben sie das Gefühl, normal zu sein, und haben kein Interesse daran, zu beobachten. So gibt es zum Beispiel viele, die noch nie einen liebenden Menschen oder einen Menschen gesehen haben, der Integrität, Mut oder Konzentrationsfähigkeit besitzt. Es liegt auf der Hand, daß man, um für sich selbst ein Gespür zu bekommen, eine Vorstellung davon haben muß, was unter dem vollkommen gesunden Funktionieren eines Menschen zu verstehen ist und wie soll man zu dieser Erfahrung gelangen, wenn man sie in seiner Kindheit -131- oder im späteren Leben nie gemacht hat? Diese Frage is t gewiß nicht einfach zu beantworten, aber sie weist auf einen sehr kritischen Punkt in unserem Erziehungssystem hin. Über der Vermittlung von Wissen geht uns jene Art zu lehren verloren, die für die menschliche Entwicklung am allerwichtigsten ist: die einfache Gegenwart eines reifen, liebenden Menschen. In früheren Epochen unserer Kultur oder in China und Indien schätzte man einen Menschen mit hervorragenden seelischen und geistigen Eigenschaften am höchsten. Auch der Lehrer hatte nicht in erster Linie die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern er sollte bestimmte menschliche Haltungen lehren. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft - und dasselbe gilt auch für den russischen Kommunismus - werden keineswegs Menschen mit hervorragenden geistigen und seelischen Qualitäten als Gegenstand unserer Bewunderung und als Vorbild hingestellt. Im Licht der Öffentlichkeit stehen im wesentlichen Leute, die dem Durchschnittsbürger stellvertretend ein Gefühl der Befriedigung geben. Filmstars, Showmaster Kolumnisten, einflußreiche Geschäftsleute oder Spitzenpolitiker - das sind die Vorbilder, denen wir nacheifern. Ihre Hauptqualifikation besteht oft darin, daß es ihnen gelungen ist, in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen. Aber die Lage erscheint trotzdem nicht ganz hoffnungslos. Wenn man bedenkt, daß ein Mann wie Albert Schweitzer in den Vereinigten Staaten berühmt werden konnte, wenn man sich klarmacht, wie viele Möglichkeiten wir haben, unsere Jugend mit lebenden und historischen Persönlichkeiten bekannt zu machen, die zeigen, was menschliche Wesen als menschliche Wesen und nicht als Entertainer im weitesten Sinn vollbringen können, wenn man an die großen Werke von Literatur und Kunst aller Zeiten denkt, so scheint es doch noch eine Chance zu geben, daß wir uns die Vision einer guten Zukunft des Menschen erhalten und daß wir sensibel dafür bleiben, wenn der Mensch zu mißlingen droht. Falls es uns nicht gelingen sollte, die Vision eines reifen Lebens -132- lebendig zu halten, so besteht allerdings die Wahrscheinlichkeit, daß unsere gesamte kulturelle Tradition zusammenbricht. Diese Tradition gründet sich nicht in erster Linie auf die Übermittlung bestimmter Arten von Wissen, sondern auf die Weitergabe bestimmter menschlicher Wesenszüge. Wenn die kommenden Generationen diese Wesenszüge nicht mehr vor Augen haben, wird eine fünftausendjährige Kultur zusammenbrechen, selbst dann, wenn ihr Wissen auch weiterhin gelehrt und weiterentwickelt wird. Bisher haben wir uns mit dem beschäftigt, was zur Ausübung einer jeden Kunst notwendig ist. Jetzt möchte ich mich der Erörterung jener Eigenschaften zuwenden, die für die Fähigkeit zu lieben von spezifischer Bedeutung sind. Nach allem, was ich über das Wesen der Liebe gesagt habe, ist die Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit, lieben zu können, daß man seinen Narzißmus überwindet. Der narzißtisch Orientierte erlebt nur das als real, was in seinem eigenen Inneren existiert, während die Erscheinungen in der Außenwelt für ihn an sich keine Realität besitzen, sondern nur daraufhin erfahren werden, ob sie für ihn selbst von Nutzen oder gefährlich sind. Das Gegenteil von Narzißmus ist Objektivität; damit ist die Fähigkeit gemeint, Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie sind, also objektiv, und in der Lage zu sein, dieses objektive Bild von einem Bild zu trennen, das durch die eigenen Wünsche und Ängste zustande kommt. Sämtliche Formen von Psychosen weisen die Unfähigkeit zur Objektivität in einem extremen Maß auf. Für den Geisteskranken gibt es nur eine Realität, die in seinem eigenen Inneren existiert, die seiner Ängste und Wünsche. Er sieht die Außenwelt als Symbol seiner eigenen Innenwelt, als seine Schöpfung. Genau das trifft für uns alle zu, wenn wir träumen. Im Traum produzieren wir Ereignisse, wir inszenieren Dramen, die Ausdruck unserer Wünsche und Ängste sind (freilich gelegentlich auch unserer Einsichten und Beurteilungen), und wir sind, solange wir schlafen, überzeugt, -133- daß das Erzeugnis unserer Träume ebenso real ist wie die Wirklichkeit, die wir im wachen Zustand wahrnehmen. Dem Geisteskranken wie dem Träumenden fehlt ein objektives Bild von der Außenwelt vollständig; aber wir alle sind mehr oder weniger geisteskrank, wir alle schlafen mehr oder weniger, wir alle machen uns ein nichtobjektives Bild von der Welt, das durch unsere narzißtische Orientierung entstellt ist. Muß ich dafür noch Beispiele anführen? Jeder wird sie leicht entdecken, wenn er sich selbst oder seine Nachbarn beobachtet oder wenn er die Zeitung liest. Der Grad der narzißtischen Entstellung der Wirklichkeit ist dabei unterschiedlich. So ruft zum Beispiel eine Frau den Arzt an und sagt, sie wolle am Nachmittag zu ihm in die Sprechstunde kommen. Der Arzt erwidert, er habe an diesem Tag keine Zeit für sie, aber sie könne gern am nächsten Tag zu ihm kommen. Sie sagt darauf: »Aber Herr Doktor, ich wohne doch nur fünf Minuten von Ihrer Praxis entfernt!« Sie begreift nicht, daß es für ihn ja keine Zeitersparnis bedeutet, wenn sie nur einen so kurzen Weg hat. Sie erlebt die Situation auf narzißtische Weise: Weil sie Zeit spart, spart auch er Zeit; die einzige Realität, die es für sie gibt, ist sie selbst. Weniger extrem - oder vielleicht auch nur weniger offensichtlich - sind die Entstellungen, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen an der Tagesordnung sind. Wie viele Eltern erleben die Reaktion ihres Kindes nur unter dem Gesichtspunkt, ob es ihnen gehorcht, ob es ihnen Freude macht, ob es ihnen zur Ehre gereicht usw., anstatt zu merken oder sich auch nur dafür zu interessieren, wie dem Kind selbst dabei zumute ist. Wie viele Männer meinen, ihre Frau sei herrschsüchtig, nur weil sie aufgrund ihrer eigenen Mutterbindung jede Forderung ihrer Frau als Einschränkung der eigenen Freiheit empfinden. Wie viele Frauen halten ihren Mann für untüchtig oder dumm, weil er ihrem Phantasiebild eines strahlenden Ritters nicht entspricht, das sie sich vielleicht als -134- Kind gemacht haben. Notorisch ist auch der Mangel an Objektivität in bezug auf andere Völker. Von einem Tag zum anderen wird ein anderes Volk als höchst gemein und bösartig empfunden, während das eigene Volk alles, was nur gut und edel ist, verkörpert. Alles, was der Feind tut, wird mit dem einen - alles, was man selbst tut, wird mit dem anderen Maßstab gemessen. Gute Taten des Feindes werden als besonders heimtückisch betrachtet, weil sie uns und die Welt angeblich hinters Licht führen sollen, während unsere eigenen Übeltaten notwendig und durch die edlen Ziele gerechtfertigt sind, denen sie angeblich dienen. Wenn man die Beziehungen zwischen den Völkern wie auch die zwischen einzelnen Individuen betrachtet, kommt man tatsächlich zu der Überzeugung, daß Objektivität die Ausnahme und eine mehr oder weniger stark ausgeprägte narzißtische Entstellung die Regel ist. Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken. Die ihr zugrundeliege nde emotionale Haltung ist die Demut. Man kann nur objektiv sein und sich seiner Vernunft bedienen, wenn man demütig geworden ist und seine Kindheitsträume von Allwissenheit und Allmacht überwunden hat. Auf die Praxis der Kunst des Liebens bezogen, bedeutet dies: Da die Fähigkeit zu lieben davon abhängt, daß unser Narzißmus relativ gering ist, verlangt diese Kunst die Entwicklung von Demut, Objektivität und Vernunft. Wir müssen unser ganzes Leben darauf ausrichten. Demut und Objektivität sind ebenso unteilbar wie die Liebe. Ich kann meiner Familie gegenüber nicht wirklich objektiv sein, wenn ich es dem Fremden gegenüber nicht sein kann, und umgekehrt. Wenn ich die Kunst des Liebens lernen will, muß ich mich in jeder Situation um Objektivität bemühen und ein Gespür für solche Situationen bekommen, in denen ich nicht objektiv bin. Ich muß versuchen, den Unterschied zu erkennen zwischen dem narzißtisch entstellten Bild, das ich mir von einem Menschen und seinem -135- Verhalten mache, und dem wirklichen Menschen, wie er unabhängig von meinen Interessen, Bedürfnissen und Ängsten existiert. Wenn man sich die Fähigkeit zu Objektivität und Vernunft erworben hat, hat man den Weg zur Kunst des Liebens schon halb zurückgelegt, aber man muß diese Fähigkeit gegenüber allen Menschen besitzen, mit denen man in Kontakt kommt. Wenn jemand seine Objektivität nur für den geliebten Menschen reservieren wollte und meint, er könne in seinen Beziehungen zur übrigen Welt darauf verzichten, dann wird er bald merken, daß er hier wie dort versagt. Die Fähigkeit zur Liebe hängt davon ab, ob es uns gelingt, unseren Narzißmus und die inzestuöse Bindung an die Mutter und die Sippe zu überwinden. Sie hängt von unserer Fähigkeit ab, zu wachsen und eine produktive Orientierung in unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst zu entwickeln. Dieser Prozeß des Sichlösens, des Geborenwerdens, des Erwachens hat als unumgängliche Voraussetzung den Glauben. Die Praxis der Kunst des Liebens erfordert die Praxis des Glaubens. Was ist Glauben? Muß es sich dabei unbedingt um den Glauben an Gott oder an religiöse Doktrinen handeln? Steht Glaube notwendigerweise im Gegensatz oder ist er geschieden von Vernunft und rationalem Denken? Wenn man das Problem des Glaubens auch nur ansatzweise verstehen will, muß man zwischen dem rationalen und dem irrationalen Glauben unterscheiden. Unter einem irrationalen Glauben verstehe ich einen Glauben (an eine Person oder eine Idee), bei dem man sich einer irrationalen Autorität unterwirft. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim rationalen Glauben um eine Überzeugung, die im eigenen Denken oder Fühlen wurzelt. Rationaler Glaube meint jene Qualität von Gewißheit und Unerschütterlichkeit, die unseren Überzeugungen eigen ist. Glaube ist ein Charakterzug, der die Gesamtpersönlichkeit beherrscht, und nicht ein Glaube an etwas ganz Bestimmtes. Rationaler Glaube ist im produktiven, intellektuellen und -136- emotionalen Tätigsein verwurzelt. Der rationale Glaube ist eine wichtige Komponente des rationalen Denkens, in dem er angeblich keinen Platz hat. Wie kommt beispielsweise der Wissenschaftler zu einer neuen Entdeckung? Macht er zunächst ein Experiment nach dem anderen, trägt er Tatsache um Tatsache zusammen, ohne eine Vision davon zu haben, was er zu finden erwartet? Nur selten ist auf irgendeinem Gebiet eine wichtige Entdeckung auf solche Weise gemacht worden, genausowenig wie man zu wichtigen Schlußfolgerungen kommt, wenn man lediglich seinen Phantasien nachjagt. Der Prozeß kreativen Denkens beginnt in allen Bereichen menschlichen Bemühens oft mit etwas, das man als eine »rationale Vision« bezeichnen könnte, welche selbst das Ergebnis beträchtlicher vorausgegangener Studien, reflektierenden Denkens und vieler Beobachtungen ist. Wenn es einem Wissenschaftler gelingt, genügend Daten zusammenzutragen oder eine mathematische Formel aufzustellen, die seine ursprüngliche Vision in hohem Maß plausibel macht, dann kann man von ihm sagen, es sei ihm gelungen, eine vorläufige Hypothese aufzustellen. Eine sorgfältige Analyse der Hypothese und ihrer Implikationen sowie die Sammlung neuer Daten, welche sie unterbauen, führt dann zu einer adäquaten Hypothese und schließlich vielleicht zur Einordnung dieser Hypothese in eine umfassende Theorie. Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Beispiele für den Glauben an die Vernunft und für solche Visionen der Wahrheit. Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton waren alle erfüllt von einem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft. Für diesen Glauben starb Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, und seinetwegen wurde Spino za exkommuniziert. Bei jedem Schritt von der Konzeption einer rationalen Vision bis zur Formulierung einer Theorie braucht man Glauben: Glauben an die Vision als einem vernünftigen Ziel, das sich anzustreben lohnt, Glauben an die Hypothese als einer wahrscheinlichen und einleuchtenden Behauptung und Glauben an die schließlich -137- formulierte Theorie - wenigstens so lange, bis ein allgemeiner Konsensus bezüglich ihrer Validität erreicht ist. Dieser Glaube wurzelt in der eigenen Erfahrung, im Vertrauen auf das eigene Denk-, Beobachtungs- und Urteilsvermögen. Während der irrationale Glaube etwas nur deshalb für wahr hinnimmt, weil eine Autorität oder die Mehrheit es sagt, ist der rationale Glaube in einer unabhängigen Überzeugung verwurzelt, die sich auf das eigene produktive Beobachten und Denken, der Meinung der Mehrheit zum Trotz, gründet. Denken und Urteilen sind nicht die einzigen Bereiche, in denen der rationale Glaube eine Rolle spielt. In der Sphäre der menschlichen Beziehungen ist Glaube ein unentbehrlicher Bestandteil jeder echten Freundschaft oder Liebe. »An einen anderen glauben« heißt soviel wie sich sicher sein, daß der andere in seiner Grundhaltung, im Kern seiner Persönlichkeit, in seiner Liebe zuverlässig und unwandelbar ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß jemand nicht auch einmal seine Meinung ändern dürfte, doch sollte seine Grundhaltung sich gleichbleiben. So sollte zum Beispiel seine Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen ein Bestandteil seiner selbst und keiner Veränderung unterworfe n sein. Im gleichen Sinn glauben wir auch an uns selbst. Wir sind uns der Existenz eines Selbst, eines Kerns unserer Persönlichkeit bewußt, der unveränderlich ist und unser ganzes Leben lang fortbesteht, wenn sich auch die äußeren Umstände ändern mögen und wenn auch in unseren Meinungen und Gefühlen gewisse Änderungen eintreten. Dieser Kern ist die Realität hinter dem Wort »Ich«, auf der unsere Überzeugung von unserer Identität beruht. Wenn wir nicht an die Beständigkeit unseres Selbst glauben, gerät unser Identitätsgefühl in Gefahr, und wir werden von anderen Menschen abhängig, deren Zustimmung dann zur Grundlage unseres Identitätsgefühls wird. Nur wer an sich selbst glaubt, kann anderen treu sein, weil nur ein solcher Mensch sicher sein kann, daß er auch in Zukunft noch derselbe -138- sein wird wie heute und daß er deshalb genauso fühlen und handeln wird, wie er das jetzt von uns erwartet. Der Glaube an uns selbst ist eine Voraussetzung dafür, daß wir etwas versprechen können, und da der Mensch - wie F. Nietzsche (1910, S. 341) sagt - durch seine Fähigkeit, etwas versprechen zu können, definiert werden kann, ist der Glaube eine der Voraussetzungen der menschlichen Existenz. Worauf es in Liebesbeziehungen ankommt, ist der Glaube an die eigene Liebe, der Glaube an die Fähigkeit der eigenen Liebe, bei anderen Liebe hervorzurufen, und der Glaube an ihre Verläßlichkeit. Ein weiterer Aspekt des Glaubens an einen anderen Menschen bezieht sich darauf, daß wir an dessen Möglichkeiten glauben. Die rudimentärste Form, in der dieser Glaube existiert, ist der Glaube der Mutter an ihr Neugeborenes: daß es leben, wachsen, laufen lernen und sprechen lernen wird. Freilich erfolgt die Entwicklung des Kindes in dieser Hinsicht mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß man wohl für die diesbezüglichen Erwartungen keinen besonderen Glauben braucht. Anders ist es mit den Fähigkeiten, die sich unter Umständen nicht entwickeln werden, wie etwa die Fähigkeit des Kindes, zu lieben, glücklich zu sein und seine Vernunft zu gebrauchen, wie auch spezielle künstlerische Begabungen. Sie sind die Saat, die wächst und die zum Vorschein kommt, wenn die richtigen Voraussetzungen für ihre Entwicklung gegeben sind, die aber auch im Kern erstickt werden kann, wenn solche Voraussetzungen fehlen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, daß die Bezugsperson im Leben des Kindes an diese Entwicklungsmöglichkeiten glaubt. Ob dieser Glaube vorhanden ist oder nicht, macht den Unterschied aus zwischen Erziehung und Manipulation. Erziehen bedeutet, dem Kind zu helfen, seine Möglichkeiten zu realisieren. (Das englische Wort education = Erziehung kommt vom lateinischen educere, was wörtlich soviel bedeutet wie »herausführen« oder »etwas herausbringen, was -139- potentiell bereits vorhanden ist«.) Das Gegenteil von Erziehung ist Manipulation, bei welcher der Erwachsene nicht an die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes glaubt und überzeugt ist, daß das Kind nur dann zu einem ordentlichen Menschen wird, wenn er ihm das, was er für wünschenswert hält, einprägt und alles unterdrückt, was ihm nicht wünschenswert scheint. An einen Roboter braucht man nicht zu glauben, weil in ihm kein Leben ist, das sich entfalten könnte. Der Höhepunkt des Glaubens an andere wird im Glauben an die Menschheit erreicht. In der westlichen Welt kam dieser Glaube in der jüdischchristlichen Religion zum Ausdruck, und in weltlicher Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den humanistisch orientierten politischen und gesellschaftlichen Ideen der letzten hundertfünfzig Jahre. Genau wie der Glaube an ein Kind, gründet auch er sich auf die Idee, daß die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten derart sind, daß er unter entsprechenden Bedingungen die Fähigkeit besitzt, eine von den Grundsätzen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe getragene Gesellschaftsordnung zu errichten. Noch ist dem Menschen der Aufbau einer solchen Gesellschaftsordnung nicht gelungen, und deshalb erfordert die Überzeugung, daß er dazu in der Lage sein wird, Glauben. Aber genau wie bei jeder Art von rationalem Glauben handelt es sich auch hier um kein Wunschdenken, sondern gründet sich auf die unleugbaren Leistungen der Menschheit in der Vergangenheit und auf die Erfahrungen, die jeder einzelne in seinem eigenen Inneren mit seiner Fähigkeit zu Vernunft und Liebe macht. Während der irrationale Glaube in der Unterwerfung unter eine Macht, die als überwältigend stark, als allwissend und allmächtig empfunden wird, und im Verzicht auf die eigene Kraft und Stärke wurzelt, gründet sich der rationale Glaube auf die entgegengesetzte Erfahrung. Wir besitzen diese Art von Glauben an eine Idee, weil sie das Ergebnis unserer eigenen Beobachtungen und unseres eigenen Denkens ist. Wir glauben -140- an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit nur deshalb, weil wir das Wachstum unserer eigenen Möglichkeiten, die Realität des Wachsens und die Stärke unserer eigenen Vernunft und unserer Liebesfähigkeit in uns erfahren haben; und wir glauben nur insoweit daran, wie wir diese Erfahrung in uns selbst gemacht haben. Die Grundlage des rationalen Glaubens ist die Produktivität. Aus dem Glauben heraus leben heißt produktiv leben. Hieraus folgt, daß der Glaube an die Macht (im Sinne von Herrschaft) und an die Ausübung von Macht das Gegenteil des Glaubens ist. An eine bereits existierende Macht glauben ist gleichbedeutend mit der Verleugnung der Wachstumschancen noch nicht realisierter Möglichkeiten. Bei der Macht handelt es ich um eine Voraussage auf die Zukunft, die sich lediglich auf die handgreifliche Gegenwart gründet und die sich als schwere Fehlkalkulatio n herausstellt. Sie ist deshalb völlig irrational, weil sie die menschlichen Möglichkeiten und das menschliche Wachstum nicht berücksichtigt. Es gibt keinen rationalen Glauben an die Macht. Es gibt nur eine Unterwerfung unter die Macht oder - von Seiten derer, die sie besitzen - den Wunsch, sie zu behaupten. Während Macht für viele das Allerrealste auf der Welt zu sein scheint, hat die Geschichte der Menschheit bewiesen, daß Macht die unstabilste aller menschlichen Errungenschaften ist. Da aber Glaube und Macht sich gegenseitig ausschließen, werden alle Religionen und alle politischen Systeme, die ursprünglich auf einen rationalen Glauben gründeten, schließlich korrupt und verlieren ihre Stärke, wenn sie sich auf ihre Macht verlassen oder sich mit der Macht verbünden. Glauben erfordert Mut. Damit ist die Fähigkeit gemeint, ein Risiko einzugehen, und auch die Bereitschaft, Schmerz und Enttäuschung hinzunehmen. Wer Gefahrlosigkeit und Sicherheit als das Wichtigste im Leben ansieht, kann keinen Glauben haben. Wer sich in einem Verteidigungssystem verschanzt und -141- darin seine Sicherheit durch Distanz und Besitz zu erhalten sucht, macht sich selbst zum Gefangenen. Geliebtwerden und lieben brauchen Mut, den Mut, bestimmte Werte als das anzusehen, was »uns unbedingt angeht«, den Sprung zu wagen und für diese Werte alles aufs Spiel zu setzen. Dieser Mut ist etwas völlig anderes als der Mut, von dem der Angeber Mussolini sprach, wenn er sich des Schlagworts »Lebe gefährlich!« bediente. Sein Mut war der Mut des Nihilismus. Er wurzelte in einer destruktiven Einstellung zum Leben, in der Bereitschaft, sein Leben wegzuwerfen, weil man nicht fähig ist, es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das genaue Gegenteil des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube an die Macht das Gegenteil des Glaubens an das Leben ist. Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben, um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit anzufangen. Aber wir alle pflegen ja diese Art von Glauben zu besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in bezug auf sein Kind, oder er leidet an Schlaflosigkeit oder an der Unfähigkeit, eine produktive Arbeit zu leisten; oder er ist mißtrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein erwecken, daß man sich irrte, an seinen Überzeugungen festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind - zu alldem ist Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben und Mut. Das praktische Üben von Glauben und Mut fängt bei den -142- kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte hierzu sind: darauf zu achten, wo und wann man den Glauben verliert, die Rationalisierungen zu durchschauen, deren man sich bedient, um diesen Glaubensverlust zu verdecken, zu erkennen, wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man hierbei anwendet, zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat führt und daß dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch erkennen, daß wir bewußt zwar Angst haben, nicht geliebt zu werden, daß wir uns aber in Wirklichkeit - wenngleich meist unbewußt - davor fürchten, zu lieben. Lieben heißt, daß wir uns dem anderen ohne Garantie ausliefern, daß wir uns der geliebten Person ganz hingeben in der Hoffnung, daß unsere Liebe auch in ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann man noch mehr über die Praxis des Glaubens sagen? Vielleicht kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich auch meine, daß jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben zu lernen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt. Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich diskutiert werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die Aktivität im Sinne des aus sich heraus Tätigseins. Ich erwähnte bereits, daß Aktivität nicht so zu verstehen ist, daß man »sich irgendwie beschäftigt«, sondern als inneres Tätigsein, als produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich mich ständig auf aktive Weise mit der geliebten Person, aber nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren, aktiv mit ihr in Beziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft, -143- der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befinden sich heute in der paradoxen Situation, daß sie halb (DOPPELT) worts »Lebe gefährlich!« bediente. Sein Mut war der Mut des Nihilismus. Er wurzelte in einer destruktiven Einstellung zum Leben, in der Bereitschaft, sein Leben wegzuwerfen, weil man nicht fähig ist, es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das genaue Gegenteil des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube an die Macht das Gegenteil des Glaubens an das Leben ist. Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben, um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit anzufangen. Aber wir alle pflegen ja diese Art von Glauben zu besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in bezug auf sein Kind, oder er leidet an Schlaflosigkeit oder an der Unfähigkeit, eine produktive Arbeit zu leisten; oder er ist mißtrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein erwecken, daß man sich irrte, an seinen Überzeugungen festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind - zu alldem ist Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben und Mut. Das praktische Üben von Glauben und Mut fangt bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte hierzu sind: darauf zu achten, wo und wann man den Glauben verliert, die Rationalisierungen zu durchschauen, deren man sich -144- bedient, um diesen Glaubensverlust zu verdecken, zu erkennen, wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man hierbei anwendet, zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat führt und daß dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch erkennen, daß wir bewußt zwar Angst haben, nicht geliebt zu werden, daß wir uns aber in Wirklichkeit - wenngleich meist unbewußt - davor fürchten, zu lieben. Lieben heißt, daß wir uns dem anderen ohne Garantie ausliefern, daß wir uns der geliebten Person ganz hingeben in der Hoffnung, daß unsere Liebe auch in ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann man noch mehr über die Praxis des Glaubens sagen? Vielleicht kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich auch meine, daß jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben zu lernen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt. Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich diskutiert werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die Aktivität im Sinne des aus sich heraus Tätigseins. Ich erwähnte bereits, daß Aktivität nicht so zu verstehen ist, daß man »sich irgendwie beschäftigt«, sondern als inneres Tätigsein, als produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich mich ständig auf aktive Weise mit der geliebten Person, aber nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren, aktiv mit ihr in Beziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft, der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befinden sich -145- heute in der paradoxen Situation, daß sie halb schlafen, wenn sie wach sind, und halb wachen, wenn sie schlafen oder schlafen möchten. Ganz wach zu sein ist die Voraussetzung dafür, daß man sich selbst und andere nicht langweilt - und tatsächlich gehört es ja zu den wichtigsten Vorbedingungen für die Liebe, daß man sich weder gelangweilt fühlt noch den anderen langweilt. Den ganzen Tag lang im Denken und Fühlen, mit Augen und Ohren tätig zu sein, um nicht innerlich träge zu werden, indem man sich rein rezeptiv verhält, Dinge hortet oder einfach seine Zeit totschlägt, das ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Praxis der Kunst des Liebens. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne sein Leben so einteilen, daß man im Bereich der Liebe produktiv und in allen anderen nichtproduktiv sein könne. Produktivität läßt eine derartige Arbeitsteilung nicht zu. Die Fähigkeit zu lieben erfordert einen Zustand intensiver Wachheit und gesteigerter Vitalität, der nur das Ergebnis einer produktiven und tätigen Orientierung in vielen anderen Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen Gebieten nichtproduktiv, so ist man es auch nicht in der Liebe. Eine Diskussion der Kunst des Liebens darf sich nicht auf den persönlichen Bereich beschränken, wo jene Merkmale und Haltungen erworben und weiterentwickelt werden, die wir in diesem Kapitel beschrieben haben. Sie hängt untrennbar mit dem gesellschaftlichen Bereich zusammen. Wenn lieben soviel heißt wie gegenüber einem jeden eine liebevolle Haltung einnehmen, wenn Liebe ein Charakterzug ist, dann muß sie notwendigerweise nicht nur in unseren Beziehungen zu unserer Familie und zu unseren Freunden, sondern auch in den Beziehungen zu all jenen zu finden sein, mit denen wir durch unsere Arbeit, unser Geschäft oder unseren Beruf in Kontakt kommen. Es gibt keine »Arbeitsteilung« zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im Gegenteil ist letztere die Vorbedingung für erstere. Würde man diese Einsicht ernst nehmen, so würde das in der Tat eine recht -146- drastische Veränderung in unseren gewohnten sozialen Beziehungen bedeuten. Während wir viel vom religiösen Ideal der Nächstenliebe reden, werden unsere Beziehungen in Wirklichkeit bestenfalls vom Grundsatz der Fairneß geleitet. Fairneß bedeutet soviel wie auf Betrug und Tricks beim Austausch von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen wie auch beim Austausch von Gefühlen zu verzichten. »Ich gebe dir ebensoviel, wie du mir gibst« materielle Güter oder Liebe - : So lautet die oberste Maxime der kapitalistischen Moral. Man könnte sagen, daß die Entwicklung der Fairneß-Ethik der besondere ethische Beitrag der kapitalistischen Gesellschaft ist. Die Gründe hierfür sind im Wesen des Kapitalismus zu suchen. In den vorkapitalistischen Gesellschaften bestimmten nackte Gewalt, Tradition oder persönliche Bande der Liebe und Freundschaft den Güteraustausch. Im Kapitalismus ist der allesbestimmende Faktor der Austausch auf dem Markt. Ob es sich um den Warenmarkt, um den Arbeitsmarkt oder den Dienstleistungsmarkt ha ndelt - jeder tauscht das, was er zu verkaufen hat, zu den jeweiligen Marktbedingungen ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug gegen das, was er zu erwerben wünscht. Die Fairneß-Ethik ist leicht mit der Ethik der Goldenen Regel zu verwechseln. Die Maxime: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem ändern zu« kann man so auslegen, als bedeute sie: »Sei fair in deinem Tauschgeschäft mit anderen«. Tatsächlich jedoch handelte es sich dabei ursprünglich um eine volkstümliche Formulierung des biblischen Gebots: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. In Wirklichkeit ist dieses jüdischchristliche Gebot der Nächstenliebe etwas völlig anderes als die Fairneß-Ethik. »Seinen Nächsten lieben« heißt, sich für ihn verantwortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, während die Fairneß-Ethik das Ziel verfolgt, sich nicht verantwortlich für ihn und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und distanziert zu sein; sie bedeutet, daß man zwar die Rechte seines -147- Nächsten respektiert, nicht aber, daß man ihn liebt. Es ist kein Zufall, daß die Goldene Regel heute zur populärsten religiösen Maxime geworden ist. Weil man sie nämlich im Sinn der Fairneß-Ethik interpretieren kann, ist es die einzige religiöse Maxime, die ein jeder versteht und die ein jeder zu praktizieren bereit ist. Aber wenn man Liebe praktizieren will, muß man erst einmal den Unterschied zwischen Fairneß und Liebe begriffen haben. Hier stellt sich jedoch eine wichtige Frage. Wenn unsere gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation darauf basiert, daß jeder den eigenen Vorteil sucht, wenn sie von dem lediglich durch den Grundsatz der Fairneß gemilderten Prinzip des Egoismus beherrscht wird, wie kann man dann im Rahmen unserer bestehenden Gesellschaftsordnung leben und wirken und gleichzeitig Liebe üben? Bedeutet denn letzteres nicht, daß man alle weltlichen Interessen aufgeben und in völliger Armut leben sollte? Christliche Mönche und Menschen wie Leo Tolstoi, Albert Schweitzer und Simone Weil haben diese Frage gestellt und auf radikale Weise beantwortet. Es gibt andere, die die Meinung teilen, daß Liebe und normales weltliches Leben in unserer Gesellschaft miteinander unvereinbar sind. (Vgl. H. Marcuse, 1955.) Sie kommen zu dem Ergebnis, daß, wer heute von der Liebe rede, sich nur am allgemeinen Schwindel beteilige; sie behaupten, nur ein Märtyrer oder ein Verrückter könne in der heutigen Welt lieben und deshalb seien alle Diskussionen über die Liebe nichts als gutgemeinte Predigt. Dieser sehr respektable Standpunkt kann aber leicht zur Rationalisierung des eigenen Zynismus dienen. Tatsächlich steckt er hinter der Auffassung des Durchschnittsbürgers, der das Gefühl hat: »Ich wäre ja recht gern ein guter Christ - aber wenn ich damit ernst machte, müßte ich verhungern.« Dieser »Radikalismus« läuft auf einen moralischen Nihilismus hinaus. Ein solcher »radikaler Denker« ist genau wie der Durchschnittsbürger ein liebesunfähiger Automat, und der -148- einzige Unterschied zwischen beiden ist der, daß letzterer es nicht merkt, während ersterer es weiß und darin eine »historische Notwendigkeit« sieht. Ich bin der Überzeugung, daß die absolute Unvereinbarkeit von Liebe und »normalem« Leben nur in einem abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar miteinander sind das der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrundeliegende Prinzip und das Prinzip der Liebe. Aber konkret gesehen, ist die moderne Gesellschaft ein komplexes Phänomen. Der Verkäufer einer unbrauchbaren Ware kann zum Beispiel wirtschaftlich nicht existieren, wenn er nicht lügt; ein geschickter Arbeiter, ein Chemiker oder Physiker aber kann das durchaus. In ähnlicher Weise können Bauern, Arbeiter, Lehrer und Geschäftsleute vieler Art durchaus versuchen, Liebe zu praktizieren, ohne hierdurch in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Selbst wenn man erkannt hat, daß das Prinzip des Kapitalismus mit dem Prinzip der Liebe an sich unvereinbar ist, muß man doch einräumen, daß der »Kapitalismus« selbst eine komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der immer noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher Spielraum möglich sind. Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob wir damit rechnen könnten, daß unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern wird und daß wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der Nächstenliebe hoffen können. Menschen, die unter unserem gegenwärtigen System zur Liebe fähig sind, bilden in jedem Fall die Ausnahme. Liebe ist zwangsweise eine Randerscheinung in der heutigen westlichen Gesellschaft, und das nicht so sehr, weil viele Tätigkeiten eine liebevolle Einstellung ausschließen, sondern weil in unserer hauptsächlich auf Produktion eingestellten, nach Gebrauchsgütern gierenden Gesellschaft nur der Nonkonformist sich erfolgreich gegen diesen Geist zur Wehr setzen kann. Wem also die Liebe als einzige vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der -149- muß zu dem Schluß kommen, daß in unserer Gesellschaftsstruktur wichtige und radikale Veränderungen vorgenommen werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung bleiben soll. In welcher Richtung derartige Veränderungen vorgenommen werden könnten, kann hier nur angedeutet werden. (In The Sane Society [1955a] habe ich mich mit diesem Problem ausführlich befaßt.) Unsere Gesellschaft wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern geleitet; die Menschen werden durch Massensuggestion motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut genährter, gut gekleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr interessiert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muß der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muß ihm dienen, und nicht er ihm. Er muß am Arbeitsprozeß aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muß so organisiert werden, daß die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird. Wenn das, was ich zu zeigen versuchte, zutrifft - daß nämlich die Liebe die einzig vernünftige und befriedigende Lösung des Problems der menschlichen Existenz darstellt -, dann muß jede Gesellschaft, welche die Entwicklung der Liebe so gut wie unmöglich macht, auf die Dauer an ihrem Widerspruch zu den grundlegenden Bedürfnissen der menschlichen Natur zugrunde gehen. Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine »Predigt«, denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden menschlichen Wesens. Daß dieses Bedürfnis so völlig in den Schatten gerückt ist, heißt nicht, daß es nicht existiert. Das Wesen der Liebe zu analysieren heißt, ihr allgemeines Fehlen -150- heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.
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